Erziehen und Erinnern
(Patron Abschlußrede der Absolventen der
Faculdade de Educação da Universidade
de São Paulo -1995)

 

Luiz Jean Lauand
(Übersetzung von Gabriele Greggersen)

Der Mensch ist ein vergeßliches Wesen!(1)

Wenn wir die Denktradition nach den philosophischen Fundamenten der Erziehung fragten, würden uns die Alten den ganz einfachen Satz zur Meditation geben:

"Der Mensch ist ein Wesen, das vergißt!".

Im Abendland, schon bei den Griechen (von Hesiod bis zu Aristoteles), finden wir die außerordentliche Wichtigkeit des Gedächtnisses für die Erziehung ständig vor (manchmal als Mnemosyne verkörpert).

Einer der Höhepunkte dieser Tradition befinden sich - 500 Jahre vor Christus - in dem griechischen Poeten Pindaro. Sein Hymnus an Zeus - ein Gedicht, daß gleichzeitig auch ein Erziehungstraktat ist -, scheint(2) alle Eigenschaften der größten Kunstwerke aller Zeiten aufzuweisen.

Die von Pindaro beschriebene Szene ist deutlich: Zeus entscheidet sich dafür, in das Chaos einzugreifen. Von da an weicht alle Unordnung der Ordnung des Kosmos.

Als die Welt dann schließlich ihren perfekten Zustand erreicht (Erstauftritt der Erde, der Flüsse, der Tiere und des Menschen...), bietet Zeus ein Bankett, um es den anderen, über solche Herrlichkeit erstaunten Göttern, zu zeigen: sein Werk...

Aber zum Erstaunen aller, meldet sich einer der Unsterblichen und weist Zeus auf einen ernsten und unerwarteten Makel hin: Es fehlen doch Geschöpfe, die die göttliche Größe dieser Welt erkennen und preisen....

...Denn der Mensch ist ein Wesen, das vergißt!

Denn eigentlich ist der Mensch, wie er von der Gottheit mit der Flamme des Geistes begnadigt wurde, dieser Mensch, ist schlecht entworfen, unvollendet; er neigt zur Stumpfheit, zur Unempfindsamkeit... und zur Vergeßlichkeit!

Auf diese Feststellung, diese tragische Feststellung unseres ontologischen Zustandes (der heute in Vergessenheit geraten ist) - gründet sich alle abendländische Erziehung.

Die Musen (Töchter des Mnemosyne), die Künste, sind schon ein erster Versuch des Zeus, dieser Situation abzuhelfen. Sie wurden dem Menschen von der Gottheit als Gefährtinnen gegeben, um ihm zu helfen, sich zu erinnern...

Und aus demselben Grund, betrachten die großen Denker der abendländischen Tradition die philosophische Entdeckungen niemals als ein Stoßen auf etwas Neues oder gar Außergewöhnliches, sondern vielmehr als Entdeckungen, als ein Aufheben von etwas längst Gesehenes, längst Gewußten, das aber, wegen dieser enthropischen Tendenz zur Vergeßlichkeit, sich nicht im Bewußtsein erhalten hatte..

So ist also die tiefgründige Mission der Erziehung nicht die, uns etwas Neues vorzustellen, sondern etwas zuvor Erfahrenes und Gewußtes aufzudecken, das bis dahin unzugänglich geblieben war. Gerade das ist in dem Word erinnern ausgedrückt.

Wenn manche behaupten, der Mensch sei ein vergeßliches Wesen, ist damit natürlich nicht gemeint, daß er alles vergißt, sondern - und diese ist auch eine Feststellung empirischer Art - das Wichtige und Wesentliche.

Denn, im Grunde, erinnert sich der Mensch an viele Dinge. Natürlicherweise vergißt er, dieses "Alltagsgeschöpf" ("Criatura trivial" - wie es Guimarães Rosa zum Ausdruck brachte), niemals den Tag der Einzahlung auf seinem Konto, nie vergißt er seine geliebte Zeitschrift, die Endweltmeisterschaft, auch nicht die üblichen Tatsachen, aus der die Routine unseres Alltags besteht.

Wohl vergißt er die Weisheit des Herzes, den heiligen Charakter der Welt und den Menschen...

Wenn, wie gesagt, diese "vergeßliche Seinsart des Menschen", im Abendland, für eine Grundeigenschaft des Menschseins angesehen wird, ist diese Feststellung wiederum in der östlichen Tradition viel radikaler.

In der arabischen Sprache lautet seit unabsehbaren Zeiten das Wort, das den Mensch bezeichnet "Insan". Die erstaunliche Tiefgründigkeit dieses Vokabels, wird offenbar wenn wir seine buchstäbliche Bedeutung betrachten: "Insan" - kommt vom Verb nassa/yansa, vergessen -, und meint "der, der vergißt".

Die orientalische Genauigkeit dieser Bezeichnung des Menschen als "Insan", als der "Vergeßliche", wird durch die Tatsache bestätigt, daß selbst der Sprecher, in seiner Alltagssprache diese Bedeutung nicht wahrnimmt. Daher kommt der sprichwörtliche arabische Satz:

Wa ma sumya al-insan insanan illa linissyanihi

("Der Insan - der Mensch also, der Vergeßliche - wurde wegen seiner Vergeßlichkeit Insan genannt".)

Natürlich enthält die Originalversion ein köstliches Wörterspiel, wie, wenn wir in deutsch, zum Beispiel, behaupten würden:

"Leidenschaft ist was Leiden schafft".

Daher ist es auch nicht außergewöhnlich, daß im Koran (Sure 20, 50-52), Gott sich vorstellt als der, der - im Gegensatz zum Menschen - "nicht vergißt". Dasselbe passiert auch in der Bibel, wenn der Prophet, und damit Gott selbst sagt: "Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen" (Jesaja 49:15).

Diese anthropologische These - daß der Mensch wesentlich ein Vergeßlicher ist - , ist uns im Grunde familiär, obwohl sie selbst längst in Vergessenheit geraten ist.

Nein, wir brauchen keine großen Philosophen zu befragen, um sie (die Vergeßlichkeitsthese) zu verteidigen. Es reicht, wenn wir eines populären Liedes gedenken, dessen Erfolg, noch vor kurzem, die ganze Welt erreichte. Ich beziehe mich auf "Unforgettable" von Irving Gordon, das in der Interpretation von Nathalie und Nat King Cole, der große Gewinner des Grammy Preises war:

Unforgettable

Unforgettable, that's what you are
Unforgettable, though near or far
Like a song of love that clings to me
How the thought of you does things to me
Never before has someone been more
Unforgettable, in every way
And for ever more that's how you'll stay
That's why, darling, it's incredible
That someone so unforgettable
Thinks that I am unforgettable too...

Nachdem er in diesem Lied, kategorisch die Unvergeßlichkeit, die angebliche und vermeintliche Unvergeßlichkeit (Unforgettable, though near or far... Unforgettable, in every way, usw.) behauptet, verrät sich der Poet - durch zwei adverbiale Konstruktionen - am Ende sieht er die menschliche Schwäche und Begrenzung ein. In den Versen, wo die Rede von more unforgettable, und so unforgettable ist, wird der relative Charakter unserer Erinnerung festgestellt, die sich große oder kleine Steigerungen leistet, und deswegen eben nicht absolut ist.

Nur von dieser Gewißheit her, daß der Mensch ein vergeßliches Wesen ist, kann man eine Erziehung aufbauen, die diesen Namen verdient.

In diesem Sinne, haben die Alten eine Pädagogik entwickelt - die heute vergessen und unverstanden bleibt - eine Pädagogik des dhikr, eine Pädagogik des Erinnerns, eine Pädagogik, die sich gründet auf die Weisheiten des Volkes, auf deren Sprichwörtern, auf dem Auswendiglernen, auf den Gesten, auf den Festen ...

Wenn wir nun diese Gedenkfeier, an der wir in diesem Moment teilnehmen in Betracht ziehen, an was denken wir, bzw. an was erinnern wir uns eigentlich? Wessen ge-denken wir, den wir nicht festlich und erhaben begrenzen und in unser Gedächtnis gravieren? Ein Gedenken, ist immer ein Versuch alle Erinnerungen dieser Jahre Studiums und Zusammenseins - der Freuden, der Entbehrungen (die jetzt auch Freuden sind...), des Wachstums in diesen Jahren - zusammenzufassen und unauslöschlich ins Herz zu einschreiben...

Hier ist eine Bemerkung über die Sprache angebracht. In vielen Sprachen ist das sich Erinnern, das Auswendiglernen, nicht gerade (oder nicht nur) mit einem Denkverfahren verbunden, aber eher mit dem Herzen: etwas aus dem Gedächtnis wissen heißt, im englischen, by heart; in französisch, par coeur; und jemanden vergessen, heißt auf italienisch scordarsi, aus dem Herzen hinaus scheiden ...

Was in unserem Herzen ist, daran erinnern wir uns - wir kennen es sogar auswendig. Thomas von Aquin, der große abendländische Denker erklärt, mit Genauigkeit, die wirklichen Gründe des Erinnerns und des Vergessens: er verknüpft Liebe und Erinnern: das was wir lieben ist unvergeßlich! Und so sagt er, zu seiner Erläuterung des Psalm 9, wo er über Gott spricht als den Einzigen, der nicht vergißt:

Illud quod aliquis cum studio et diligentia facit, non obliviscitur quin illud faciat; Deus autem studiosus est ad salutem hominum: et ideo non obliviscitur (In Ps. 9,8).

(Was mas mit Eifer und Liebe tut, eben das vergißt man nicht. Nun, Gott liebt das Wohl des Menschen, also vergißt Er es nicht).

Und so unverhoffter Weise, zeigt sich die klassische Erziehungstradition und die Erinnerungspädagogik gleichzeitig auch als eine Pädagogik der Liebe...

Herzlichen Dank

 


1- Im Laufe dieser Rede, befolgten wir die Kapitel von Michéle Simondon "Mnémosyne, mère des Muses" in La Mémoire et l'Oubli dans la Pensée Grecque jusqu'à la fin du Ve. siècle avant J.C., Paris, Société d'édition "Les Belles Lettres", 1982; von Bruno Snell "Pindar's Hymn to Zeus" in The Discovery of the Mind - The Greek Origins of European Thought, Cambridge, Harvard Univ. Press, 1953; und, von J. Pieper Nur der Liebende singt, Schwabenverlag, 1988, S.35 u. f.

2- Das Gedicht ist uns als Fragment überliefert worden.