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Onto-logie des Notwendigen Zu einem Erbe
Ciceros im Denken Richards von St. Viktor

 

Hideki Nakamura
hnakamurasj@hotmail.com
Phil.-Theol. Hochschule St. Georgen Frankfurt
Hugo von St. Viktor-Institut

I. Einleitung

Die Problemstellungen der Theologie des 12. Jahrhunderts sind durch ihre sowohl quellenmäßige als auch methodische Vielfältigkeit gekennzeichnet. Zugrunde liegt aber diesen vielfältigen denkerischen Anstrengungen ein gemeinsames Vorhaben: der Vollzug der Selbsterhellung des christlichen Glaubens durch die Vernunft (fides quaerens intellectum). So üben die Theologen ihre Fähigkeiten gerade darin, daß sie Spannungen innerhalb der christ­lichen Tradition als Fragestellung (quaestio) auffassen, um dafür letztendlich eine Lösung zu finden, die auch durch die Vernunft (ratio) einsehbar ist.

Ein herausragender Vertreter dieser Denkrichtung ist Richard von St. Viktor († 1173). Sein bekanntes Argumentationsverfahren, die Nutzung sogenannter rationes necessariae, wurde wegen seiner methodischen Radikalität und der Anwendung gerade auf die Trinitätslehre in der Geschichte der Theologie mehrmals rationalistisch mißverstanden. [1] Der Nachweis von rationes necessariae innerhalb eines Argumentationszusammenhangs hat ihre Wurzel schon bei Cicero. In der vorliegenden Untersuchung möchte ich zuerst skizzieren, wie Cicero selbst über die ‚zwingende Beweisführung’ dachte, dann zeigen wie die Lehre Ciceros in der Abtei St. Viktor im 12. Jahrhundert, besonders von Hugo von St. Viktor in seinem Wissenschaftssystem rezipiert wurde und anschließend darlegen, welche Früchte das Verfahren bei Richard von St. Viktor in seiner Trinitätstheologie getragen hat.

II. Ciceros Schrift De inventione und seine Lehre der zwingenden Beweisführung

Obwohl Cicero im Proömium zu seinem Werk De oratore (55 v. Chr.) reflektiert, daß sein rhetorisches Jugendwerk De inventione eine gewisse Unvollkommenheit und Roheit enthält, [2] wurde dieses Werk De inventione vor allem im lateinischen Mittelalter zu einem der meistgelesenen Lehrbücher der Rhetorik. Niedergeschrieben wurde De inventione in dem Zeitraum von 86 bis 84 v. Chr. [3] Cicero war zusammen mit seinem Bruder Quintus nach Rom gekommen, um seine Ausbildung für die zukünftige Tätigkeit auf dem Forum zu beginnen. Cicero nahm an der Vorlesung über griechisch-römische Rhetorik eines uns namentlich nicht bekannten Lehrers teil und wollte aus Begeisterung über die Vorlesung selbst ein zusammenfassendes Handbuch der Rhetorik verfassen. So entstand De inventione ursprünglich mit der Absicht, alle fünf Teile der rhetorischen Redekunst (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio) [4] abzuhandeln. Tatsächlich schreibt Cicero sein Buch ausschließlich und ausführlich über die inventio. [5] Nach dem Proömium, in dem eine Rechtfertigung der Redekunst vorgebracht wird (I, 1-5a), und der einleitenden Erörterung der Grundbegriffe der Rhetorik (I, 5b-9), beginnt die eigentliche Lehre von der inventio (I, 10-II, 178). [6] Er definiert sie als das Ersinnen wahrer oder wahrscheinlicher Tatsachen, die den Fall glaubwürdig machen sollen. [7] Im ersten Teil (I, 10-19a) legt er die von Hermagoras von Temnos [8] entwickelte Stasis-Lehre dar, in der die Zergliederung des Stoffes in Gattungen behandelt wird. Den zweiten Teil (I, 19b-109) widmet Cicero den sechs Teilen der Rede (partes orationis). Im dritten Teil (II, 11-178) wird dann eine besondere Argumentation­stechnik dargestellt.

In der Mitte des zweiten Teils (I, 34-77) erklärt Cicero die confirmatio (Bekräftigung) zu einem unentbehrlichen Teil der Rede: «Die Bekräftigung ist es, mit deren Hilfe die Rede durch Be­weisführung unserer Sache Glaubwürdigkeit, Gewicht und Stütze verleiht.» [9] Er analysiert zuerst verschiedene Formen der Bekräftigung innerhalb der Beweisführung (I, 34-43). Darauf folgt eine doppelte Unterscheidung innerhalb der Beweisführung (argumentatio) selbst:

Jede Beweisführung (argumentatio) aber, welche aus den Punkten, die ich erwähnt habe, genommen wird, muß glaubwürdig (probabilis) oder zwingend (necessaria) sein. Um es nämlich kurz zu beschreiben: die Beweisführung scheint eine Auffindung des Stoffes zu sein, die in irgend­einer Weise eine Sache entweder glaubwürdig zeigt oder zwingend darlegt. [10]

Die zwingende Darstellung (demonstratio necessaria) wird dann weiter definiert: «Zwingend legt man das dar, was weder anders, als gesagt wird, geschehen noch bewiesen werden kann.» [11] In dieser Definition finden sich nun drei verschiedene Ebenen: die Ebene des Redens (dicere), die Ebene des Geschehens (fieri), und die Ebene des Beweisens (probari). Er fügt dann ein Beispiel hinzu: «Wenn sie geboren hat, hat sie mit einem Mann geschlafen.» [12] Dieses Beispiel benennt ein ontologisches Geschehen als Faktum: eine Frau ist niedergekommen. Dieses Geschehen, ihr Gebären, setzt aber unvermeidlicherweise ein anderes ontologisches Geschehen als Ursache voraus, nämlich die Befruchtung durch einen Mann. [13] Wenn die Geburt feststeht, ist das Notwen­digkeitsverhältnis der beiden Akte auf den oben genannten drei Ebenen unleugbar: auf der ontologischen Ebene des Geschehens, auf der sprachlogischen Ebene des Redens und schließlich auf der rhetorischen Ebene der Beweisführung. Das Gebären als ontologische Tatsache kann nämlich nicht anders geschehen, als nach der Befruchtung durch einen Mann. Dieses ontologi­sche Notwendigkeitsverhältnis kann sprachlogisch nicht anders ausgesagt werden, als daß die unentbehrliche Bedingung bzw. der entscheidende ermöglichende Grund für das Gebären in die Satzstruktur funktionell eingeordnet wird, wie es in dem Satz: «Si peperit, cum viro concubuit», geschieht. Soweit aber die Satzstruktur diese sprachlogische Notwendigkeit enthalten muß, kann die rhetorische Beweisführung nicht anders gestaltet werden, als daß die Kernstruktur der Beweisführung wiederum durch diese sprachlogische Notwendigkeit bestimmt wird.

Somit entsteht eine Beweisführung (argumentatio), deren Schlüsse sich mit Notwendigkeit ergeben und die man deswegen als zwingende Darstellung (demonstratio necessaria) beschreiben kann. [14] Sie ist ‚zwingend’, weil bei einem Zustandekommen der Beweisführung die grundle­gende ontologische Notwendigkeit unvermeidlich eingesehen werden muß. Diese Art der Beweisführung kann daher, wenn der Inhalt des Argumentes überhaupt verstanden wird, auf keinerlei Weise widerlegt werden, weil «die Beweisführung selbst aus einem notwendigen Grund (ratio necessaria) besteht.» [15] Hier ist für uns die entscheidende Stelle, in der der Begriff ratio necessaria selbst auftaucht. [16] Ratio necessaria ist zunächst die onto-logisch notwendige Bestimmtheit eines Geschehens. Ist diese onto-logisch notwendige Bestimmtheit eines Geschehens als solche erkannt, bestimmt sie somit notwendigerweise auch die sprach-logische Struktur der Aussage über dieses Geschehen. Taucht diese Aussage mit ihrer notwendigen sprachlogischen Struktur in einer Beweisführung auf, fungiert sie als der notwendige Grund, aus dem sich der Beweis selbst konstituiert.

Die andere Art der Beweisführung, die glaubwürdige bzw. wahrscheinliche Beweisführung (arugumentatio probabilis) ist nicht als solche definiert. Cicero gibt sofort eine dreifache Unterteilung an. Eine Beweisführung wird dadurch glaubwürdig bzw. wahrscheinlich (probabile), daß sie sich auf ein Argument stützt, das einen Sachverhalt wiedergibt, der beinahe immer vorzukommen pflegt oder der auf einer Annahme beruht oder der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem aktuell vorliegen Sachverhalt gemeinsam hat. [17] Der wahrscheinliche Grund, auf dem die Beweisführung aufbaut, kann entweder ein Indiz (signum) oder etwas Glaubhaftes (credibile) oder ein Urteil (iudicatum) oder etwas Vergleichbares (comparabile) sein. [18] Bei dieser Art der Beweisführung handelt es sich daher nicht um eine ontologische und somit sprachlogische Notwendigkeit, sondern schlicht um eine Wahrscheinlichkeit.

Die Lehre der zwingenden Beweisführung ist nun keine gänzlich neue Erfindung Ciceros, sondern scheint aus seinem Studium der aristotelischen Schriften zu stammen, obwohl er keine Referenzstellen angibt. [19] Bezüglich der Lehre der zwingenden Beweisführung kann eine Stelle in den Analytica priora II, 27 die mögliche Quelle Ciceros gewesen sein. An dieser Stelle erklärt Aristoteles nämlich den beweisenden (Vorder-)Satz, der entweder notwendig oder im all­gemeinen akzeptiert ist (πρoτασις απoδεικτικη η αvαγκαια η εvδoξoς). [20]

Die Schrift De inventione ist oft gemeinsam mit einer anonymen rhetorischen Schrift Rhetorica ad Herennium, die etwa zur gleichen Zeit wie De inventione verfaßt und viele Jahrhunderte Cicero zugeschrieben wurde, in den Handschriften überliefert. [21] Ciceros Schrift bezeichnete man als Rhetorica I und die Rhetorica ad Herennium als Rhetorica II. Diese beiden lateinischen Lehrbücher der Rhetorik, übrigens die ältesten, die uns erhalten sind, gehörten zum Kanon der Rhetorikausbildung. Als wichtige Überlieferungsstationen ins Mittelalter sind zu nennen: Marius Victorinus, [22] Augustinus, [23] Boethius, [24] Cassiodorus [25] und Anselm von Canterbury. [26] Auch in der Pariser Abtei St. Viktor hat man die Rhetoriklehre Ciceros gekannt und geschätzt. [27]

III. Rezeption der Rhetoriklehre Ciceros in der Abtei St. Viktor

a) Wilhelm von Champeaux und sein Kommentar über Ciceros De inventione

Die Abtei St. Viktor wurde von Wilhelm von Champeaux (†1122), Erzdiakon der Diözese Paris gegründet. Er war ein angesehener Magister an der Schule von Notre-Dame. Zu seinen Schülern gehörte Abaelard, der ihn bezüglich seiner Lehre von den Universalien stark angriff. Im Jahre 1108 beendete Wilhelm seine Lehrtätigkeit an dieser Schule und zog sich in eine Ermitage auf dem linken Ufer der Seine mit dem Wunsch nach einem ruhigen Leben zurück. Er gründete dort eine neue Kommunität als Abtei St. Viktor und gab ihr die Augustinusregel. Zugleich eröffnete er eine neue theologische Schule, die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts als ein intellektuel­les Zentrum in der Pariser Theologie eine entscheidende Rolle spielte. [28]

Als Magister der Dialektik kommentierte Wilhelm Ciceros De inventione und die Rhetorica ad Herennium. In einer informationsreichen Untersuchung aus dem Jahr 1976 hat Fredborg, auf die vorhergehenden Forschungen von Dickey (1968) und Ward (1972) aufbauend, die Authentizität dieses Kommentars bewiesen und den Text zum Teil in gedruckter Form zugänglich gemacht. [29] Laut der Untersuchung Fredborgs unternimmt Wilhelm in diesem Kommentar eine wissen­schaftstheoretische Systematisierung der verschiedenen Disziplinen. [30]

Während Dickey vermutet, daß Wilhelm seinen Kommentar über Ciceros De inventione und die Rhetorica ad Herennium um 1118, also gegen Ende seines Lebens, schrieb, datiert Fredborg sie dagegen auf das Ende des 11. Jahrhunderts. [31] Wahrscheinlich legte Wilhelm seine wissenschafts­theoretische Konzeption, die sein Kommentar beinhaltet, seiner Lehrtätigkeit in der Abtei St. Viktor weiter zugrunde. Dadurch wurde ein für die theologische Entwicklung der Abtei ent­scheidender Theologe, Hugo von St. Viktor (†1141), umfassend mit ihr bekannt.

b) Hugo von St. Viktor: Einordnung der Rhetoriklehre Ciceros in die Wissenschaftstheorie

In seinem theologisch-pädagogischen Werk, Didascalicon: De studio legendi, setzt sich Hugo zum Ziel, das Bildungsideal der griechisch-lateinischen Antike und das des christlichen Mittel­alters in eine Synthese zu bringen. Dabei versucht Hugo das antike Ideal der umfassenden Bildung (εγκυκλιoς παιδεια) in die geistlich-theologische Ausbildung der Abtei einzufüh­ren, so daß die Spannung zwischen dem antiken Bildungsideal der rhetorisch-humanistischen Gelehrsamkeit einerseits, in der die Schriften Ciceros eine maßgebende Rolle spielen, [32] und der aristotelisch-philosophischen Wissenschaftsdisziplinen andererseits aufgehoben wird: «Der kluge Student hört also alle gern, liest alles und verachtet keine Schrift, keine Person, keine Lehre». [33] Diese holistische Sichtweise ermöglicht es Hugo, Quellen für die Bildung zu erschließen, ohne der willkürlichen Verengung zu erliegen, die damals üblich war. [34]

Diese umfassende Bildung ist aber keine schlichte Sammlung der verschiedenen Disziplinen, sondern hat einen Kern, um den sich alles gruppiert: die Theologie. Von zentraler bedeutung innerhalb der Theologie sind die theologische Anthropologie und die Soteriologie. Nach Hugo ist der Mensch durch den Sündenfall aus der gnadenhaften Ordnung gefallen, die bei der Schöp­fung mitgegeben wurde. Der Mensch braucht daher das Heil Gottes, damit das ursprüngliche in Gott Gegründetsein und die dadurch gewonnene Ähnlichkeit (similitudo) mit Gott [35] wiederher­gestellt wird. Das Heilswerk Gottes differenziert sich in zwei Werke: «Die Werke [Gottes], in denen alle geschaffenen Dinge enthalten sind, sind nämlich zwei. Das Erste ist das Werk der Schöpfung (opus conditionis). Das Zweite ist das Werk der Erlösung (opus restaurationis).» [36] Das Werk der Schöpfung ist dadurch gegeben, daß Gott die Geschöpfe aus dem Nichts er­schafft. Das Werk der Erlösung, durch das die ursprüngliche Orientierung des Menschen wie­derhergestellt wird, hat seine Mitte in der Menschwerdung Gottes und umfaßt das gesamte Heilswerk Gottes von der Schöpfung bis zum Eschaton. [37]

Diese zweifache Struktur des göttlichen Werks liegt der ganzen Theologie Hugos zugrunde; sie findet sich auch in seiner Wissenschaftstheorie. Aufgrund dieser anthropologisch-soteriologischen Grundstruktur ist nämlich die tiefste Intention aller menschlichen Handlungen (intentio omnium humanarum actionum) auf ein einziges Ziel gerichtet: die Wiederherstellung der ursprünglichen, durch den Sündenfall verlorengegangenen Ähnlichkeit der menschlichen Natur mit dem göttlichen Urbild. [38] Der Mensch vollzieht daher sein eigentliches Wesen dann, wenn er sich seinem Urbild zuwendet und ihm ähnlich wird. Da aber dem menschlichen Geist zwei Arten des Selbstvollzugs möglich sind, nämlich Erkennen und Wollen, hat der Mensch seinen Wiederherstellungsversuch auch zweifach zu vollziehen: «Zwei Dinge sind es, welche die Gottähnlichkeit im Menschen wiederherstellen, nämlich die Erforschung der Wahrheit und die Ausübung der Tugend.» [39] Die Erforschung der Wahrheit und die Ausübung der Tugend ergänzen sich gegenseitig auf dem Weg zur Wiederherstellung der menschlichen Natur bzw. der Selbstverwirklichung des Menschen. [40]

Diese zwei Arten des menschlichen Selbstvollzugs fördert besonders die sorgfältige Lektüre der Heiligen Schrift (lectio divina). Die gesamte Heilige Schrift dient nämlich der Förderung des Erkennens und der Unterrichtung im sittlichen Verhalten. [41] Hugos Werk Didascalicon: De studio legendi hat daher zum Ziel, durch die Unterweisung der entsprechenden Lektüremethode diesen zweifachen Selbstvollzug anzuleiten. Dabei wird zuerst der Weg der Erkenntnis betont, weil das sittliche Verhalten die Erkenntnis des Sittlichen voraussetzt.

 Hugo trifft eine weitere Unterscheidung im Bereich der Erkenntnistätigkeiten, die der anthropologisch-soteriologischen Zielorientierung des Menschen entspricht:

Wenn wir uns um die Wiederherstellung unserer Natur bemühen, so ist dies eine göttliche Handlung; wenn wir uns aber um die Bedürfnisse unserer Schwächen kümmern, so ist dies eine menschliche Handlung. Jede Handlung ist daher entweder göttlich oder menschlich. Die erstere können wir, da sie sich auf Höheres richtet, in angemessener Weise Einsicht (intelligentia) nennen, die letztere, da sie sich auf Niederes bezieht und gleichsam eines gewissen Rates bedarf, können wir Wissen (scientia) bezeichnen. [42]

Alle vernunftgemäßen Handlungen des Menschen leitet nach Hugo die göttliche Weisheit (sapientia) selbst, so daß sie beide Arten des menschlichen Erkennens, Einsicht und Wissen, umfaßt. [43] Die Vollendung der menschlichen Erkenntnis besteht darin, daß der menschliche Geist diese Weisheit, soweit wie möglich, einsieht. Denn die göttliche Weisheit ist sowohl ermöglichender Grund aller menschlichen Erkenntnis als auch ein Erkenntnisgegen­stand, dies jedoch nur mittelbar. Denn die geschaffene Welt gilt Hugo als sichtbarer Ausdruck der göttlichen Weisheit: «Die göttliche Weisheit, die der Vater aus seinem Herzen hervorströmen ließ, wird, obwohl in sich selbst unsichtbar, durch die Geschöpfe und in den Geschöpfen erkannt.» [44]

Der menschliche Geist kann aber die göttliche Weisheit nie restlos ergründen. Die Weisheit selbst jedoch ermuntert ihn, in seinem Bestreben nicht nachzulassen. Die menschliche Erkenntnis ist daher, auch bei einer Teilhabe an der göttlichen Weisheit, nicht als Weisheit selbst, sondern angemessener als Liebe zur Weisheit (amor sapientiae) zu bezeichnen. So zitiert Hugo die Definition der Philosophie von Boethius, um einen umfassenden Begriff über die menschliche Erkenntnis als solche zu erreichen:

Philosophie ist also die Liebe zur Weisheit, das Streben nach Weisheit und gewissermaßen die Freundschaft mit der Weisheit. [Gemeint ist hier] aber nicht jene Weisheit, die sich mit irgendwelchen Werkzeugen und mit handwerklichem Wissen (scien­tia) und Können (notitia) beschäftigt, sondern die Weisheit, der an nichts mangelt, die ein lebendiger Geist und die alleinige Grundursache der Dinge ist. Diese Liebe zur Weisheit ist nun eine Erleuchtung des verständigen Geistes durch jene reine Weisheit und, gewissermaßen, ein Rückzug und ein Rückrufen des menschlichen Geistes zu sich selbst, so daß das Streben nach Weisheit als eine Freundschaft mit dem Gottsein und dem reinen Geist erscheint. Diese Weisheit überträgt nämlich die Würde ihres eigenen Gottsein auf alle Zustände der Seele und führt diese zurück zu der Kraft und Reinheit, die ihrer Natur eigen ist. Daraus entstehen die Wahrheit des Forschens und Denkens und die reine und heilige Sittlichkeit des Handelns. [45]

Die Liebe zur Weisheit, die Philosophie, umfaßt somit alle menschlichen Erkenntnistätigkeiten, die den Men­schen zu seinem letztendlichen Ziel führt: «Die Philosophie ist die Wissenschaft (disciplina), die die Prinzipien aller menschlichen und göttlichen Dinge umfassend erforscht.» [46]

Die Philosophie als Wissenschaft läßt sich weiter untergliedern. Die Wiederherstellung der menschlichen Natur gelingt, wie wir schon gesehen haben, durch die Erforschung der Wahrheit und die Ausübung der Tugend. [47] Diese Aufgabe übernimmt das Einsichtvermögen des Menschen, die intelligentia. Die Erkenntnis durch die intelligentia wird in die Theorik (theorica), die die Wahrheit bzw. die Weisheit selbst erforscht, und die Praktik (practica), die das sittliche Verhalten bestimmt, differenziert. [48] Das Wissen (scientia), das sich nur auf menschliche Bedürfnisse bezieht, bildet einen anderen Teil und wird Mechanik (mechanica) genannt. [49] Diese drei grundlegenden Teile ergänzt ein anderer, gleich wesentlicher Teil, nämlich die Logik (logica), die methodisch alle Wissenschaftsdisziplinen stützt. [50] Somit wird die Philosophie bzw. die gesamte Wissenschaft in vier grundlegende Teilbereiche unterteilt: Theorik, Praktik, Mechanik und Logik. [51]

Diese vier Grundbereiche werden noch weiter in einzelne Disziplinen differenziert:

Die Theorik wird eingeteilt in Theologie (theologia), Physik (physica) und Mathematik (mathematica). Die Mathematik wird eingeteilt in Arithmetik (arithmetica), Musik (musica), Geometrie (geometria) und Astronomie (astronomia). Die Praktik wird eingeteilt in die persönliche (solitaria), die private (privata) und die öffentliche (publica). Die Mechanik wird eingeteilt in Tuchherstellung (lanificium), Waffenschmiedekunst (armatura), Handelsschiffahrt (navigatio), Landwirtschaft (agricultura), Jagd (venatio), Medizin (medicina) und Theaterkunst (theatrica). Die Logik wird eingeteilt in Grammatik (grammatica) und Argumentationslehre (dissertiva). Die Argumenta­tionslehre wird eingeteilt in beweisführende Argumentation (demonstratio), wahrscheinliche Argumentation (probabilis) und Überredung (sophistica). Die wahrscheinliche Argumentation wird eingeteilt in Dialektik (dialectica) und Rhetorik (rhetorica). [52]

In dieses Wissenschaftssystem löst Hugo die seinerzeit übliche Einheit der sieben artes, unterteilt in Trivium und Quadrivium, auf. Sie sind aber inhaltlich dadurch weiter erhalten, daß einerseits das Trivium in der Logik, andererseits das Quadrivium in der Mathematik aufgeht. Die Lehre der Redekunst ist somit in die Logik als eine der Grundwissenschaften integriert. Sie trägt auf der einen Seite aufgrund ihrer eigenen, an sich selbständigen Methode und Forschungsbereiche dazu bei, daß die Forschung der Philosophie ein entsprechendes Niveau der sprachlogisch-rhetori­schen Präzision erreicht. Sie erhält auf der anderen Seite eine tiefere Bedeutung ihrer Tätigkeit, insofern sie in die Erforschung der Wahrheit, der Philosophie, hineingezogen wird. So zitiert Hugo aus De inventione, als er die Mechanik mit den sieben artes vergleicht. In diesem Ver­gleich wird die Stellung der artes im gesamten Wissenschaftssystem Hugos deutlich:

Die Mechanik umfaßt sieben Wissenschaften [...] [53] Drei davon beziehen sich auf äußeren Schutz für die menschliche Natur, wodurch sie sich gegen Widrigkeiten abschirmt, und vier beziehen sich auf die innere Ausstattung, wodurch sie sich ernährt und für ihren Unterhalt sorgt. In dieser Einteilung [der Mechanik] besteht eine Ähnlichkeit zum Trivium und Quadrivium, denn das Trivium befaßt sich ja mit Worten, die etwas Äußerliches sind, und das Quadrivium mit Begrif­fen, die innerlich gebildet werden. Die mechanischen Wissenschaften sind die sieben Dienerinnen, die Merkur von der Philologie als Mitgift erhielt, [54] denn die Beredsamkeit (eloquentia) sich mit der Weisheit (sapientia) verbindet, ist ihr wahrhaftig jede menschliche Tätigkeit dienstbar. Wie Cicero in seinem Buch über die Rhetorik vom Studium der Beredsamkeit sagt: ‚Durch sie wird das Leben sicher und ehrenhaft, glanzvoll und angenehm. Denn aus der Beredsamkeit erwachsen dem Gemeinwesen zahlreiche Vorteile, vorausgesetzt, die Weisheit, die Lenkerin aller Dinge, ist auch mit dabei; aus der Beredsamkeit fließen für diejenigen, die sie erworben haben, Lob, Ehre und Würde; aus der Beredsamkeit gewinnen sogar noch die Freunde jener Beredten sichersten und verläßlichsten Beistand.’ [55]

Die Einteilung der Logik ist nun für unsere Untersuchung von Bedeutung, denn hier stoßen wir wieder auf die Ausführungen Ciceros. In Didascalicon: De studio legendi II, 30 erläutert Hugo die Lehre der Argumentation (ratio disserendi):

Die Argumentationslehre umfaßt als integrale Bestandteile die Auffindung (inventio) und die Beurteilung (iudicium), als separate Unterabtei­lungen aber die beweisführende Argumentation (demonstratio), die wahrscheinliche Argumenta­tion (probabilis) und die Überredung (sophistica). Die beweisführende Argumentation besteht aus zwingenden Argumenten (argumenta necessaria) und gehört den Philosophen. Die wahr­scheinliche Argumentation gehört den Dialektikern und den Rhetorikern; die Überredung aber den Sophisten und Schwätzern. [56]

In diesem Kapitel erklärt Hugo, wie die Begriffe inventio (Auffindung) und iudicium (Beurteilung) in die Argumentationslehre seines Wissenschaftssystems zu integrieren sind. Laut Hugo lehrt die Auffindung, wie man Argumente entdeckt und die Argumentationslinien ausarbeiten kann. Die Beurteilung lehrt, wie man die beiden, nämlich die Argumente und die Argumenta­tionslinien beurteilen kann. [57] Cicero erwähnt dieses Begriffspaar nicht in De inventione I, 44, sondern in einem anderen Werk: Topica II, 6. [58] An dieser Stelle – Topica II, 6 – beginnt er seinen Versuch, die hauptsächlich von Aristoteles vorgelegte Argumentationslehre (ratio disserendi) umfassend zu erörtern, und zwar offensichtlich ohne Textvorlage, [59] aus eigener Kenntnis der aristotelischen Rhetoriklehre. [60] In Didascalicon: De studio legendi II, 30 versucht Hugo, diese beiden Stellen der Rhetoriklehre Ciceros [61] innerhalb des eigenen Wissenschaftssystems synthetisch auszulegen.

Eine Schwierigkeit taucht nun bei diesem Versuch der synthetischen Auslegung auf. Nach Hugo sind die Auffindung (inventio) und die Beurteilung (iudicium) für die ganze Gattung (genus) der Argumentationslehre konstitutiv. Sie sind keine separaten Unterabteilungen (divisivae partes), sondern integrale Bestandteile (integrales partes) aller Unterarten (species) der Argumentations­lehre. [62] Sie sind also einerseits kein eigenständiger Teilbereich der Argumentationslehre, anderer­seits sind sie aber auch nicht mit der Argumentationslehre selbst identisch. Daraus muß man schließen, daß sie innerhalb des gesamten Wissenschaftssystems keinen Ort haben. Die Folge aber ist, daß die Philosophie nicht die gesamte Wissenschaft zu umfassen scheint. [63]

Diese Schwierigkeit wird von Hugo dadurch gelöst, daß er verschiedene Bedeutungen des Begriffs ‚Wissen’ (scientia) unterscheidet und näher erläutert, was unter ‚integrale Bestandteile’ zu verstehen ist. Das Wort scientia (Wissen[schaft]) kann nämlich in zweierlei Bedeutung gebraucht werden: (1) für eine bestimmte Wissenschaftsdisziplin, so ist z.B. die Dialektik ein Wissen; (2) für eine beliebige Art von Kenntnis, wie z.B. gesagt wird, daß einer, der etwas weiß, Wissen hat. [64] Von jedem Wissen, das nach der oben erwähnten ersten Bedeutung eine Wissenschaftsdisziplin bildet, kann mit Recht gesagt werden, daß es eine separate Unterabteilung der Philosophie bildet. Aber von einem Wissen, das, nach der zweiten Bedeutung, eine Kenntnis von etwas ist, kann nicht generell gesagt werden, daß es eine separate Unterabteilung der Philosophie ist. [65]

Um den Unterschied zwischen der beiden Arten des Wissens zu verdeutlichen, führt Hugo den Begriff ‚selbständiger Endzweck’ (finis absolutus) ein und definiert damit, was eine Wissenschaftsdisziplin überhaupt ist: «Eine Wissenschaftsdisziplin (disciplina) ist nun ein Wissen, das einen selbständigen Endzweck hat, in dem das Vorhaben dieses Wissensbereichs vollständig verwirklicht wird.» [66] Diese Eigenschaft der Wissenschaftsdisziplin haben aber die Auffindung und die Beurteilung nicht, weil «keines von diesen beiden in sich selbständig (per se absoluta) ist.» [67] Sie sind eher sozusagen modi procedendi scientiae, die die Argumentationslehre als das Ganze umfassend methodisch stützen. Die Auffindung und die Beurteilung sind daher auf eigene Weise, nämlich integral, ‚Bestandteile’ der Argumentationslehre, obgleich sie auf die Unterabteilungen dieser Gattung, gemäß dem eigenen selbständigen Endzweck der jeweiligen Wissenschafts­disziplin, unterschiedlich angewandt werden. [68]

Der Lehre von der zwingenden Beweisführung fügt Hugo wohl keine bemerkenswerte Entwick­lung hinzu. Sein Versuch der synthetischen Auslegung der beiden Bemerkungen Ciceros aber ermöglicht ihm, das Wissenschaftsverständnis anhand des Begriffs ‚selbständiger Endzweck’ zu vertiefen.

IV. Rationes necessariae bei Richard von St. Viktor

a) Liber exceptionum

Nach dem Tod Hugos im Jahr 1141 hat Richard die wissenschaftliche Leitung in der Abtei St. Viktor übernommen. Als Nachfolger Hugos hat Richard in seinem enzyklopädischen Werk Liber exceptionum die hugonische Wissenschaftstheorie weiter bearbeitet. [69] So finden wir im Liber exceptionum I, I, 22 einen Auszug der Erklärung Hugos über die Logik und ihre Einteilung, zusammen mit der Lehre von der zwingenden Beweisführung Ciceros: [70]

Richard, Liber exceptionum I, I, 22

Logica dividitur in grammaticam et rationem disse­rendi. Grammatica dividitur in litteram, sillabam, dictionem et orationem. Ratio disserendi dividitur in probabilem, necessariam et sophisticam. Probabilis dividitur in dialecticam et rethoricam. Necessaria pertinet ad philosophos, sophistica ad sophistas. Grammatica est scientia recte loquendi. Dialectica disputatio acuta, verum a falso distinguens. Rethori­ca est disciplina ad persuadendum queque idonea.

Hugo, Didascalicon: De studio legendi II

Logica dividitur in grammaticam et in rationem disserendi (II, 28). Grammatica dividitur in litte­ram, syllabam, dictionem et orationem (II, 29). Ra­tio disserendi integrales partes habet inventionem et iudicium, divisivas vero demonstrationem, probabilem, sophisticam. Demonstratio est in necessariis argumentis et pertinet ad philosophos. Probabilis pertinet ad dialecticos et ad rhetores; sophistica, ad sophistas et cavillatores. Probabilis dividitur in dialecticam et rhetoricam, quarum utraque integrales habet partes inventionem et iudicium.[...] Grammatica est scientia loquendi sine vitio; dialec­tica, disputatio acuta verum a falso distinguens. Rhetorica est disciplina ad persuadendum quaeque idonea. (II, 30).

In seinem Liber exceptionum bietet Richard in bezug auf die Methode der zwingenden Beweisführung keine neuen Einsichten. Die entscheidende Neuigkeit zeigt sich darin, daß er die Argumentation mit rationes necessariae als grundlegendes Verfahren in der Gotteslehre und der Trinitätslehre anwendet. Um diesen Beitrag Richards genauer zu betrachten, wenden wir uns seinem dogmatischen Hauptwerk De Trinitate zu.

b) De Trinitate: rationes necessariae als theo-logisches Verfahren

1. Grundorientierung der Untersuchung in De Trinitate

Das Werk De Trinitate hat zum Ziel, die Geheimnisse der göttlichen Dreieinigkeit, so weit wie möglich, durch die menschliche Erkenntnis zu erforschen. In den ersten fünf Kapiteln des ersten Buchs von De Trinitate unternimmt es Richard, sein methodisches Vorgehen darzulegen. Mit dem wiederholten Leitmotiv, «Wenn ihr nicht glaubt, kommt ihr nicht zum Einsehen» (Jes. 7, 9), [71] untermauert Richard seine Grundannahme, daß sich der Glaubende, um Glaubensgegenstände einzusehen, mehr auf den Glauben als auf vernünftige Überlegung, mehr auf Autorität als auf Argumente stützen soll. [72] Unter Einsehen (intelligere) versteht Richard das Ergebnis der höch­sten Erkenntnisbetätigung des Menschen, nämlich der Einsicht (intelligentia).

Basal für die Erkenntnistheorie Richards [73] ist die hierarchische Einteilung des menschlichen Geistes und seine Betätigungen: Einbildungskraft (imaginatio) – Vernunft (ratio) – Einsicht (intelligentia). Diese drei Erkenntnisvermögen bilden drei wiederum hierarchisch gestufte Erkenntniswege, nämlich Denken (cogitatio) – Betrachtung (meditatio) – Kontemplation (contemplatio). Jedem Erkenntnisweg liegt eines dieser drei Vermögen als Hauptvermögen zugrunde: «Aus der Einbildungskraft geht das Denken hervor, aus der Vernunft die Betrachtung, aus der Einsicht die Kontemplation.[...] Die Einsicht nimmt die höchste Stelle ein, die Einbildungskraft die unterste, die Vernunft die mittlere.» [74] Die einzelnen Vermögen des Geistes stehen nicht unvermittelt übereinander, sondern operieren vielmehr miteinander, auch innerhalb eines Erkenntnisweges. Der höchste und wichtigste Erkenntnisweg des menschlichen Geistes ist die Kontemplation, die aus dem höchsten Vermögen, der Einsicht, hervorgeht, weil die Kontemplation den menschlichen Geist weitet und in so hohem Maße sensibilisiert, daß er fähig wird, die Dinge einzusehen, die erst durch die göttliche Offenbarung erkennbar werden. [75] Die Geheim­nisse der Trinität, die in De Trinitate behandelt werden, entsprechen also als Gegenstände der Kontemplation dem höchsten Erkenntnisweg des menschlichen Geistes. [76]

Das Zitat aus Jesaja koppelt nun die Einsicht nicht vollständig vom Glauben ab, sondern be­hauptet ein Abhängigkeitsverhältnis, das zwischen der Einsicht und dem Glauben besteht. Die Schau der in Frage kommenden Erkenntnisgegenstände ist nämlich ohne den Glauben nicht möglich. Für die Erreichbarkeit jener Einsicht ist zuerst vorausgesetzt, daß der Glaubende sich stark weiß im Glauben und bereit ist, an ihm unter allen Umständen standhaft festzuhalten. [77] Auf dieser Grundlage ist es dann dem Glaubenden möglich, mittels gereifter Geistesvermögen [78] und mit Hilfe der göttlichen Erleuchtung, die Wahrheit so tief und umfassend wie möglich einzusehen. [79] Auf diesem Weg des nach der inneren und tieferen Einsicht suchenden Glaubens kann der Glaubende graduell voranschreiten und sich der vollendeten Einsicht schrittweise unaufhörlich nähern. Dieser Prozeß führt den Glaubenden schließlich zum ewigen Leben, [80] obgleich eine vollständige Einsicht wegen der grundsätzlichen Unbegreiflichkeit Gottes für den menschlichen Geist im irdischen Leben nie erreicht werden kann. [81]

2. Gegenstand der Untersuchung

Nicht alle Glaubensinhalte, die der christliche Glaube umfaßt, werden in De Trinitate behandelt, sondern nur diejenigen, die zu den Ewigen gehören. [82] Diese methodische Beschränkung gründet sich auf die Unterscheidung zwischen immanenter und ökonomischer Trinität. Die Geheimnisse der Erlösung, die sich in der Zeit abgespielt haben, werden in diesem Werk nicht behandelt. Denn die Untersuchung der heilsökonomischen Geheimnisse verlangt eine andere Methode als die der Geheimnisse der immanenten Trinität, obschon sie ebenfalls entsprechend geglaubt werden sollen. [83]

Im Kapitel 5 des ersten Buchs, das sich am Ende der methodischen Erläuterung findet, wird dieser Forschungsgegenstand konkreter bestimmt. Zuerst sagt Richard etwas zur Motivation seiner Untersuchungen. Sie speist sich aus einer alltäglichen Erfahrung. Richard liest oft von den Wesenseigenschaften und der Dreieinigkeit Gottes in der geistlich-theologischen Lektüre, [84] auch im Stundengebet hört er täglich davon, [85] so daß er es für nötig hält, lernbegierigen Geistern ein wenig zu helfen. [86] Dies um so mehr, da sich zwar zu diesen Themen die auctoritates geäußert haben, aber ohne zu argumentieren; über all dies fehlen Erfahrungen, und Begründungen sind spärlich. [87] So sind die Gegenstände der Untersuchung ausdrücklich genannt: die Wesenseigenschaften und die Dreieinigkeit Gottes. Dieser grundsätzlichen Einteilung folgt der Traktat in seinem weiteren Aufbau: die Wesenseigenschaften Gottes werden in den ersten zwei Büchern des Werkes behandelt und die Dreieinigkeit Gottes in den letzen vier Büchern. Der erste Teil (De Trinitate 1-2) umfaßt also die Gotteslehre, und der zweite Teil (De Trinitate 3-6) die Trinitätslehre.

Den inhaltlichen Rahmen der beiden Forschungsfelder formuliert Richard in Übernahme des Glaubensbekenntnisses Quicumque, [88] das in St. Viktor fast täglich im Stundengebet rezitiert wurde. [89] Der von Richard zitierte Satz gibt den Wortlaut des Quicumque aber nur unvollständig wieder. [90] Richard vermeidet sorgfältig an dieser Stelle die göttlichen Personennamen, weil ihre Erörterung erst im sechsten Buch des Traktates vorgenommen wird. Damit äußert er sein grundlegendes Anliegen deutlich, nämlich den Glaubensinhalt, der das alltägliche Leben des Glaubenden wesentlich bestimmt, tiefer zu erfassen, und dabei in hohem Maße pädagogisch vorzugehen. [91]

3. Rationes necessariae: Onto-logie des Notwendigen

Zwar gibt es die Aussagen vieler Autoritäten (auctoritates) zu den Geheimnissen Gottes, ihre Stichhaltigkeit (argumentationes) aber läßt zu wünschen übrig. [92] Mit dem Ausdruck auctoritates sind die Heilige Schrift, die Kirchenväter, die Credoformeln wie das angeführte Quicumque und dazu noch die kirchlichen Dekrete gemeint. [93] Die Absicht Richards besteht nicht darin, die Bedeutung der Autoritäten abzuschwächen, sondern darin, sie durch argumentationes bzw. rationes zu ergänzen und ihre Stimmigkeit zu erweisen. [94] Diese Ergänzungen müssen aber nicht nur wahrscheinliche (probabiles), sondern notwendige Gründe (rationes necessariae) beibringen, damit sie die Glaubensvorlage durch Aufschlüsseln und Erhellen der Wahrheit sichern. [95] So taucht hier das Begriffspaar der Rhetoriklehre Ciceros rationes necessaria /probabiles wieder auf.

Die Notwendigkeit der rationes necessariae erweist Richard mit folgendem Argument: Alles, was mit Notwendigkeit ist, hat einen notwendigen Grund dafür, daß es ist. Was ewig ist, kann in keiner Weise nicht sein: es besitzt Seinsnotwendigkeit, so daß es immer sein muß, ohne den Seinsmodus zu ändern. Den Eigenschaften, die Gott zugesprochen und in De Trinitate behandelt werden, kommt Ewigkeit zu. Daher ist es unmöglich, daß diese Eigenschaften Gottes, da sie Seinsnotwendigkeit haben, notwendiger Gründe entbehren. [96]

In diesem Argument bezieht sich die erkenntnistheoretische Notwendigkeit der Gründe auf die onto-logische Notwendigkeit des Gegenstandes, auf den die Erkenntnis abzielt. Im Fall des Erkenntnisgegenstandes ‚Gott’ liegt eine Besonderheit vor. Denn die Gründe für die Eigenschaften, die Gott zuerkannt werden müssen, liegen nicht außerhalb seiner selbst. Bei Gott fallen Begründetes und Begründendes, Eigenschaften und Träger der Eigenschaften in eins. [97] Im Fall des Erkenntnisgegenstandes ‚Gott’ ist der Inhalt der Argumentationsform der rationes necessariae aufgrund der vollständigen Selbstursächlichkeit Gottes in erster Linie die onto-logische Selbstbestimmung Gottes. [98]

 Nun sind Sein und Erkenntnis in Gott selbst völlig identisch: «Alles, was die höchste und gött­liche Wesenheit in ihrem Sein (esse) bestimmt, das ist in der höchsten und unveränderlichen Vernunft (ratio) gegründet.» [99] Im Fall des Erkenntnisgegenstandes ‚Gott’ ist der Inhalt der Argumentationsform rationes necessariae, aufgrund dieser vollständigen Identität, die Selbstbestimmung Gottes, die sowohl ontologisch als auch erkenntnismäßig in Gott selbst liegt. Diese Selbstbestimmung Gottes kann nur von der göttlichen Erkenntnis (divina ratio) selbst her restlos erkannt werden. Menschlicher suchender Vernunft (humana ratio) bleibt die Selbstbestimmung Gottes einstweilen noch verborgen, [100] weil die göttliche Wirklichkeit für die menschliche Erkenntnis, selbst für das höchste Erkenntnisvermögen, die Einsicht (intelligentia), überhaupt undurchschaubar bleibt. [101]

Der für die menschliche Erkenntnis zuhöchst unbegreifliche Gott ist zugleich an sich das höchste Erkennbare, dessen vollkommene Erkennbarkeit allein von der göttlichen Erkenntnis selbst vollständig geleistet werden kann. Der menschlichen Erkenntnis wird aber bereits in dieser Welt erlaubt, mittels ihres höchsten Vermögens – Vernunft und Einsicht – etwas von dem unbegreifli­chen Gott einzusehen. Da dieses Unbegreifliche sowohl ontologisch als auch erkenntnistheore­tisch absolute Notwendigkeit hat, nimmt die menschliche Erkenntnis des Unbegreiflichen auf ihre Weise auch an dieser Notwendigkeit des Gegenstandes teil. [102] Die ontologische Ermöglichung dieser Teilnahme liegt darin, daß Gott die Menschen als sein Ebenbild, besonders in bezug auf das Geistesvermögen (secundum animam), geschaffen hat. [103] Als Ebenbild Gottes kehrt der Mensch zu Gott, zu seinem Urbild, zurück, wenn er etwas von Gott erkennt. In der Erkenntnis leuchtet das göttliche Licht in den menschlichen Geist wie in einen Spiegel, so daß der mensch­liche Geist die ewige und notwendige Wahrheit Gottes schauen kann. [104] Wenn der Geist etwas mit Gewißheit erkennt, erkennt er es in dem Licht der ewigen und notwendigen Wahrheit. Der Inhalt dieser Erkenntnis (ratio) ist aufgrund der absoluten Gewißheit und Notwendigkeit des Gegenstandes mithin in sich und durch sich unbedingt gewiß und notwendig (necessaria). Soweit die rationes necessariae als Erkenntnisinhalt logische Folgerichtigkeit und Notwendigkeit enthalten, können sie theo-logischen Argumentationen dienen, um rational einsichtige Erweise zu stützen. [105]

Der Versuch, das Unbegreifliche einzusehen, entspringt in seinem Grund aus einem existentiellen Verlangen des Glaubenden nach der Wahrheit des Geglaubten. Ferner braucht der menschliche Geist für die Erkenntnis des Unbegreiflichen die Erleuchtung des göttlichen Lichtes als Möglich­keitsbedingung. Diese Beteiligung Gottes tangiert jedoch nicht die logisch-zwingende Notwen­digkeit, mit der die Einsicht erfolgt. Für jede Einsicht wird vielmehr ein rein rationales Begreifen des Gehaltes als solches gefordert. Im Grunde genommen ist daher die Rationalität des zu Bewiesenen unabhängig davon, ob der Einsichtsuchende ein Glaubender ist oder nicht. [106] Die Einsicht hat es bezüglich ihres Gehaltes nur mit sich selbst und dem in der Einsicht Erkennbaren zu tun. Die gewonnene Einsicht besitzt von sich her unbedingte Gewißheit und Notwendigkeit, selbst wenn der Glaube keine inhaltliche Stütze gibt. Die Einsicht, die nach der Wahrheit des Geglaubten sucht, ist auf den Glauben nicht angewiesen.

Auf dieser Linie liegt die Aussage Richards: non ex Scripturarum testimoniis, sed ex rationis attestione convincere. [107] Mit Anselm nimmt Richard die Möglichkeit der methodischen Trennung zwischen dem Denken selbst und dem vorausliegenden Grund des Denkens an. Der Denkende, solange er um den vorausliegenden Grund und seine Ermöglichung des Denkens reflektierend weiß, kann sich aus der Bindung an diesen Grund zuerst einmal methodisch lösen, um sola ratione zu argumentieren. [108] Anselm betont diese erkenntnistheoretisch mögliche Selbständigkeit des Denkens in Kapitel 2-4 des Proslogion: «Dank Dir, guter Herr, Dank Dir, daß ich das, was ich zuvor durch Dein Geschenk geglaubt habe, jetzt durch Deine Erleuchtung so einsehe, daß ich, wollte ich es nicht glauben, daß Du existierst, es nicht nicht einsehen könnte.» [109]

Die Selbständigkeit des Denkens heißt aber nicht zugleich vollständige Autonomie und Un­abhängigkeit des Denkens. Anselm drückt die Selbständigkeit des Denkens in der Form eines Dankgebetes aus und beschreibt die göttliche Erleuchtung als Ermöglichungsgrund jener denkerischen Selbständigkeit. Dadurch zeigt er gerade, daß die Trennungsmöglichkeit zwischen dem Denken selbst und seinem Ermöglichungsgrund aus der Abhängigkeit des Denkens von seinem Grund entspringt.

Richard betont, daß diese Abhängigkeit des Denkens von seinem Grund nie aufgelöst werden kann. Ohne göttliche Erleuchtung gibt es keine Einsicht der Wahrheit. [110] Bezüglich der Erkennt­nis des Unbegreiflichen stellt Richard besonders diese gänzliche Abhängigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens von seinem Ermöglichungsgrund heraus. [111] Ferner lehnt er ein Ver­stehenwollen grundsätzlich ab, das sich nicht an den Glauben binden will. [112] Die Selbständigkeit der Erkenntnis ist daher kein Selbstzweck. Trotz der erkenntnistheoretisch möglichen Selb­ständigkeit bleibt das menschliche Erkenntnisvermögen gebunden. Erst in dieser Bindung kann die Einsicht, wegen ihrer im Gegenstand gründenden Gewißheit und Notwendigkeit, dahin gelangen, bei dem Versuch, das Unbegreifliche einzusehen, immer tiefer vorzudringen.

V. Schluß

Es handelt sich bei den rationes necessariae in De Trinitate Richards um den fortdauernden Versuch der menschlichen Erkenntnis, das Unbegreifliche immer tiefer zu erforschen. Die rationes necessariae sind also ein wichtiger Pfeiler im theologischen Lehrgebäude Richards, das sich auf dem Fundament eines Glaubens erhebt, der nach Einsicht sucht. Die theo-logische Bedeutung der rationes necessariae kann erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn die beiden anderen Stützen des Baus, nämlich die Bedeutung der göttlichen Erleuchtung für die mensch­liche Erkenntnis und die Folgen der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, in Betracht gezogen werden.

Die Rezeption eines Teils der Rhetoriklehre Ciceros durch Mitglieder der Abtei St. Viktor, durch die wissenschaftstheoretischen Beiträge von Wilhelm von Champeaux und durch ihre Weiterfüh­rung bei Hugo, hat bei Richard reiche Früchte getragen. Die onto-logische Notwendigkeit, die Cicero schon als Grundlage der sprach-logischen Notwendigkeit vorausgesetzt hat, ist bei Richard in der reinsten, absoluten Weise eingesehen, nämlich als das Notwendige selbst, außer dem nichts im strengen Sinne notwendig sein kann. Diese Onto-logie des Notwendigen er­möglicht ihm, einer Methodik der Theo-logie neue Klarheit zu verleihen. So hat Richard von St. Viktor mit seinem Verfahren der rationes necessariae methodisch einen Gipfel der Gottes- und Trinitätslehre in der Theologie des Mittelalters erklommen.



[1] Vgl. Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode: Die scholastische Methode im 12. und beginnenden 13. Jahrhundert, Bd. II, Freiburg, 1911 (Berechtigter, unveränderter photomechanischer Nachdruck der ersten Auflage: Basel/Stuttgart, Benno Schwabe & Co., 1965), S. 316, seine Anm. 4.

[2] Cicero, De oratore I, 5: De l’orateur, livre premier, texte établi et traduit par Edmund Courbaud, Paris, 1922, S. 9: «[...] quae pueris aut adulescentulis nobis ex commentariolis nostris incohata ac rudia exciderunt, vix sunt hac aetate digna et hoc usu, quem ex causis, quas diximus, tot tantisque consecuti sumus [...]»

[3] Zur Datierung des Werkes s. Cicero, De inventione: Über die Auffindung des Stoffes, lateinisch-deutsch, hrsg. u. übers. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf /Zürich, Artemis u. Winkler, 1998, S. 365, Anm. 7.

[4] Cicero, De inventione I, 9 (ed. cit., S. 24): «[...] partes autem eae, quas plerique dixerunt, inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio.»

[5] Daher kommt der Titel: Cicero, De inventione II, 178 (ed. cit., S. 336): «Nunc quoniam omne in causae genus argumentandi ratio tradita est, de inventione, prima ac maxima parte rhetoricae, satis dictum videtur. Quare, quoniam et una pars ad exitum hoc ac superiore libro perducta est et hic liber non parum continet litterarum, quae restant, in reliquis dicemus.» Das Werk endet aber mit diesem Satz.

[6] Zum Aufbau des Werkes s. Manfred Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften, Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 1960, S. 58f.

[7] Cicero, De inventione I, 9 (ed. cit., S. 24): «Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, quae causam probabilem reddant.»

[8] Er lebte in der letzten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Seine Lehre war die Grundlage des römischen Rhetorikunterrichts. Cicero setzt sich in De inventione mit ihm mehrmals auseinander: vgl. I, 8; I, 12; I, 97.

[9] Cicero, De inventione I, 34 (ed. cit., S. 72): «Confirmatio est, per quam argumentando nostrae causae fidem et auctoritatem et firmamentum adiungit oratio.»

[10] Cicero, De inventione I, 44 (ed. cit., S. 86): «Omnis autem argumentatio, quae ex eis locis, quos commemoravimus, sumetur, aut probabilis aut necessaria debebit esse. Etenim, ut breviter describamus, argumentatio videtur esse inventum aliquo ex genere rem aliquam aut probabiliter ostendens aut necessarie demonstrans.»

[11] Cicero, De inventione I, 44 (ed. cit., S. 86): «Necessarie demonstrantur ea, quae aliter ac dicuntur nec fieri nec probari possunt [...]»

[12] Cicero, De inventione I, 44 (ed. cit., S. 86): «[...] Si peperit, cum viro concubuit.»

[13] Wegen der Möglichkeit der künstlichen Befruchtung kann diese Bedingung heutezutage auch eine ‚indirekte’ Befruchtung durch männliches Sperma sein.

[14] Cicero, De inventione I, 44 (ed. cit., S. 86): «Hoc genus argumentandi, quod in necessaria demonstratione versatur [...]»

[15] Cicero, De inventione I, 45 (ed. cit., S. 88): «Atque hoc diligenter oportebit videre, ne quo pacto genus hoc refelli possit [...] verum ipsa argumentatio ex necessaria ratione consistit.»

[16] Also nicht nur die Definitionen der demonstratio necessaria und probabilis bzw. die des probabile in De inventione I, 44 (s. unsere Anm. 11) und I, 46 (s. unsere Anm. 17), wie z.B. in einer der jüngsten Forschungen von den Bok zitiert wird: vgl. Nico den Bok, Communicating the Most High. A Systematic Study of Person and Trinity in the Theology of Richard of St. Victor († 1173) (Bibliotheca Victorina 7), Paris/Turnhout, Brepols, 1996, S. 184, Anm. 132; Schniertshauer referiert weder über Cicero noch über andere frühere Quellen der mittelalterlichen rationes necessariae vor Anselm von Canterbury: vgl. Martin Schniertshauer, Consummatio Caritatis. Eine Untersuchung zu Richard von St. Victors ‚De Trinitate’ (Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 10), Mainz, Matthias-Grünewald, 1996, S. 88; die kurze Erwähnung von Ghellinck und Jacquin De inventione, II, 29 scheint ein Versehen zu sein. Sie meinen vermutlich De inventione, I, 29 (nach anderer Art der Stellenzählung, d.h. = I, 44-46 nach unserer Art der Stellenzählung), weil an der angegebenen Stelle, auf beide Arten der Stellenzählung, nicht die rationes necessariae besprochen werden: vgl. J. de Ghellinck, «Dialectique et dogme aux Xe–XIIe siècles», Festgabe zum 60. Geburtstag Clemens Baeumker (BGPhMA, Supplementband), Münster, 1913, S. 79-99; A. M. Jacquin, «Les ‚rationes necessariae’ de saint Anselme», Mélanges Mandonnet. Études d’histoire littéraire et doctrinale du Moyen Âge II (Bibliothèque Thomiste 14), Paris, 1930, S. 67-78.

[17] Cicero, De inventione I, 46 (ed. cit., S. 88): «Probabile autem est id, quod fere solet fieri aut quod in opinione positum est aut quod habet in se ad haec quandam similitudinem, sive id falsum est sive verum.» Im folgenden (De inventione I, 46-47) versucht Cicero, mit mehreren Beispiele diese drei Arten inhaltlich klar zu machen.

[18] Cicero, De inventione I, 47 (ed. cit., S. 90): «Omne autem (ut certas quasdam in partes tribuamus) probabile, quod sumitur ad argumentationem, aut signum est aut credibile aut iudicatum aut comparabile.»

[19] Es ist bei Cicero übrig; vgl. William W. Fortenbaugh, «Cicero’s Knowledge of the Rhetorical Treatises of Aristotle and Theophrastus», in: William W. Fortenbaugh u. Peter Steinmetz (Hrsg.), Cicero’s Knowledge of the Peripatos (Rutgers University Studies in Classical Humanities 4), New Brunswick, Transaction Publishers, 1989, S. 39-60, hier 40: «Cicero endorses the Aristotelian view, but nothing speaks for firsthand knowledge of the Rhetoric. Rather Cicero introduces what he has learned from his teachers or from handbooks or from both. The same is true also of De inventione [...]»; zur Kenntnis Ciceros über die aristotelischen Schriften s. auch Anthony A. Long, «Cicero’s Plato and Aristotle», in: Jonathan G. F. Powell (Hrsg.), Cicero the Philosopher, Oxford, Oxford University Press, 1995, S. 37-61.

[20] Vgl. Aristoteles, Analytica priora II, 27, 70a 7.

[21] Zum Verhältnis von De inventione zu dieser anonymen Schrift vgl. die Einleitung von Nüßlein zu De inventione (s. unsere Anm. 3), S. 383-386.

[22] Vgl. Marius Victorinus, De rhetorica 10; Explanationes in Ciceronis rhetoricam I.

[23] Vgl. Augustinus, De utilitate credendi 36.

[24] Vgl. Boethius, De differentiis topicis I.

[25] Vgl. Cassiodorus, De artibus ac disciplinis liberalium litterarum III. An dieser Stelle hat Cassiodorus die oben erwähnte Stelle von Boethius (De differentiis topicis I) abgeschrieben.

[26] Vgl. Anselm von Canterbury, Cur Deus homo, Praefatio. Bezüglich der Quelle des Begriffs ‚rationes necessariae’ erwähnt Anselm nichts. Daß er aber diesen Begriff nicht nur im Bereich der Rhetorik bzw. Logik, sondern in seiner systematisch-theologischen Erwägung verwendet hat, ist für weitere die Rezeption des Begriffs von großer Bedeutung.

[27] 27 Mehrere Werke Ciceros waren in der Bibliothek der Abtei St. Viktor vorhanden. Bezüglich der rhetorischen Schriften Ciceros: s. Mss. Paris BN Lat. 15140 (f.1 TULLII CICERONIS veteris rethorice libri ; f.47 Eiusdem Tullii nove rethorice libri quatuor); Paris BN Lat. 15141 (f.105 Item rethorice veteris TULLII libri duo; f.142 Eiusdem Tullii nove rethorice libri quatuor); s.a. Leopold V. Delisle, Inventaire des manuscrits latins de Saint-Victor, conservés à la bibliothèque impériale sous les numéros 14232-15175 (Bibliothèque de l’École de Chartes 50), Paris, 1869, hier S. 75-76; zur Kenntnis Hugos über die Schriften Ciceros s. unsere Anm. 32.

[28] Zur Entwicklung der Abtei vgl. Jean Longère (Hrsg.), L’abbaye parisienne de Saint-Victor au moyen âge, communications présentées au XIIIe colloque d’humanisme médiéval de Paris (1986-1988) et réunies par Jean Longère (Bibliotheca Victorina I), Paris/Turnhout, Brepols, 1991; sowie Rainer Berndt, «Schule von Sankt Viktor», Theologische Realenzyklopädie, XXX (1998), Sp. 42-46.

[29] Vgl. Karin M. Fredborg, «The Commentaries on Cicero’s De Inventione and Rhetorica ad Herennium by William of Champeaux», Cahiers de l’Institut du Moyen-Âge Grec et Latin, 17 (1976), S. 1-39; Mary Dickey, «Some Commentaries on the De Inventione and Ad Herennium of the 11th and Early 12th Century», Mediaeval and Renaissance Studies, 6 (1968), S. 1-41; John O. Ward, Artificiosa eloquentia in the Middle Ages (unpublished Ph. D. Thesis), Toronto, 1972.

[30] Vgl. MSS: York Minster XVI. M. 7 f. 1vb; Vatican Borgh. lat. 57, f. 55ra-b; Durham Cath. lib. C. IV. 7 f. 2ra. Nach Wilhelm gehört die Rhetorik als ein Teil zur Logik. Dazu s.a. die schematische Zusammenfassung von Fredborg, vgl. Karin M. Fredborg, art. cit., S. 22.

[31] Vgl. Mary Dickey, art. cit., S. 15; Karin M. Fredborg, art. cit., S. 4-5.

[32] Auch in Didascalicon: De studio legendi ist Cicero mehrmals namentlich erwähnt: vgl. I, 10; II, 20; III, 2. Die hier erwähnte Einteilung des Kapitels folgt der zweisprachigen Ausgabe von Offergeld: Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon de studio legendi – Studienbuch, lateinisch-deutsch, übers. u. eingeleitet von Thilo Offergeld (Fontes Christiani 27), Freiburg/Basel u.a., Herder, 1997.

[33] Hugo, Didascalicon: De studio legendi III, 13 (ed. cit., S. 252, Z. 18-20): «Prudens igitur lector omnes libenter audit, omnia legit, non scripturam, non personam, non doctrinam spernit.»

[34] Zu nennen ist beispielsweise die einseitige Betonung der physischen Welterkenntnis vgl. Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 5 (ed. cit., S. 128, Z. 19-20); ibid. I, 1 (ed. cit., S. 116, Z. 6-9).

[35] Vgl. Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 8 (ed. cit., S. 136, Z. 16-17).

[36] Hugo, De sacramentis christianae fidei I, Prologus 2 (PL 176, Sp. 183 A): «Duo enim sunt opera in quibus universa continentur quae facta sunt. Primum est opus conditionis. Secundum est opus restaurationis.»

[37] Vgl. Hugo, De sacramentis christianae fidei I, Prologus 2 (PL 176, Sp. 183 A-B).

[38] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 7 (ed. cit., S. 136, Z. 8-13): «Ex quo colligi potest id quod supra dictum est, quod videlicet omnium humanarum actionum ad hunc finem concurrit intentio, ut vel divinae imaginis similitudo in nobis restauretur, vel huius vitae necessitudini consulatur, quae quo facilius laedi potest adversis, eo magis foveri et conservari indiget.» ; s. auch ibid. I, 5 (ed. cit., S. 128, Z. 11-12).

[39] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 8 (ed. cit., S. 136, Z. 14-15): «Duo vero sunt quae divinam in homine similitudinem reparant, id est, speculatio veritatis et virtutis exercitium.»

[40] Vgl. Hugo, Didascalicon: De studio legendi V, 8 (ed. cit., S. 346, Z. 6-11).

[41] Hugo, Didascalicon: De studio legendi V, 6 (ed. cit., S. 336, Z. 23 – S. 338, Z. 4): «Geminus est divinae lectionis fructus, quia mentem vel scientia erudit vel moribus ornat. Docet quod scire delectet et quod imitari expediat. Quorum alterum, id est, scientia, magis ad historiam et allegoriam, alterum, id est, instructio morum, ad tropologiam magis respicit. Omnis divina Scriptura refertur ad hunc finem.»

[42] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 8 (ed. cit., S. 136, Z. 22 – S. 138, Z. 6): «Cum igitur ad reparandam naturam nostram intendimus, divina actio est, cum vero illi quod infirmum in nobis est necessaria providemus, humana. Omnis igitur actio vel divina est vel humana. Possumus autem non incongrue illam, eo quod de superioribus habeatur, intelligentiam appellare, hanc vero, quia de inferioribus habetur, et quasi quodam consilio indiget, scientiam vocare.»

[43] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 8 (ed. cit., S. 138, Z. 7-10): «Si igitur sapientia, ut supra dictum est, cunctas quae ratione fiunt moderatur actiones, consequens est iam ut sapientiam has duas partes continere, id est, intelligentiam et scientiam, dicamus.»; ibid. I, 4 (ed. cit., S. 124, Z. 19-20): «[...] rationalis animae actus caeca cupiditas non capiat, sed moderatrix semper sapientia praecedat.»

[44] Hugo, Didascalicon: De studio legendi V, 3 (ed. cit., S. 322, Z. 14-16): «Et divina sapientia, quam de corde suo Pater eructavit, in se invisibilis, per creaturas et in creaturis agnoscitur.»

[45] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 2 (ed. cit., S. 118, Z. 3-15): «‚Est autem philosophia amor et studium et amicitia quodammodo sapientiae, sapientiae vero non huius, quae in ferramentis quibusdam, et in aliqua fabrili scientia notitiaque versatur, sed illius sapientiae, quae nullius indigens, vivax mens et sola rerum primaeva ratio est. Est autem hic amor sapientiae, intelligentis animi ab illa pura sapientia illuminatio, et quodammodo ad seipsam retractio atque advocatio, ut videatur sapientiae studium divinitatis et purae mentis illius amicitia. Haec igitur sapientia cuncto animarum generi meritum suae divinitatis imponit, et ad propriam naturae vim puritatemque reducit. Hinc nascitur speculationum cogitationumque veritas, et sancta puraque actuum castimonia.’» Vgl. Boethius, In Isagogen Porphyrii Commenta, Editio prima, ed. Samuel Brandt (CSEL 48), Wien/Leipzig, 1906, I, 3, S. 7.

[46] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 4 (ed. cit., S. 126, Z. 6-7): «Philosophia est disciplina omnium rerum humanarum atque divinarum rationes plene investigans.»

[47] Vgl. unsere Anm. 39.

[48] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 8 (ed. cit., S. 138, Z. 10-14): «Rursus intelligentia, quoniam et in investigatione veritatis et in morum consideratione laborat, eam in duas species dividimus, in theoricam, id est, speculativam, et practicam, id est, activam, quae etiam ethica, id est, moralis appellatur.»

[49] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 8 (ed. cit., S. 138, Z. 14-15): «Scientia vero, quia opera humana prosequitur, congrue mechanica, id est, adulterina vocatur.»: s. auch unsere Anm. 42.

[50] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 11 (ed. cit., S. 146, Z. 4-6): «[...] necesse fuit logicam quoque inveniri, quoniam nemo de rebus convenienter disserere potest. Nisi prius recte et veraciter loquendi rationem agnoverit.»

[51] Hugo, Didascalicon: De studio legendi I, 11 (ed. cit., S. 152, Z. 11-16): «Quattuor tantum diximus esse scientias, quae reliquas omnes continent, id est, theoricam, quae in speculatione veritatis laborat, et practicam, quae morum disciplinam considerat, et mechanicam, quae huius vitae actiones dispensat, logicam quoque, quae recte loquendi et acute disputandi scientiam praestat.»; ibid. III, 1 (ed. cit., S. 216, Z. 1-2): «Philosophia dividitur in theoricam, practicam, mechanicam, logicam.»

[52] Hugo, Didascalicon: De studio legendi III, 1 (ed. cit., S. 216, Z. 2-10): «Theorica dividitur in theologiam, physicam, mathematicam, logicam. Mathematica dividitur in arithmeticam, musicam, geometriam, astronomiam. Practica in solitariam, privatam, publicam. Mechanica dividitur in lanificium, armaturam, navigationem, agriculturam, venationem, medicinam, theatricam. Logica dividitur in grammaticam, dissertivam. Dissertiva dividitur in demonstrationem, probabilem, sophisticam. Probabilis dividitur in dialecticam, rhetoricam.»

[53] S. o. unsere Anm. 52.

[54] Vgl. Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii II, 217.

[55] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 20 (ed. cit., S. 192, Z. 1-17): «Mechanica septem scientias continet [...] Ex quibus tres ad extrinsecus vestimentum naturae pertinent, quo se ipsa natura ab incommodis protegit, quattuor ad intrinsecus, quo se alendo et fovendo nutrit, ad similitudinem quidem trivii et quadrivii, quia trivium de vocibus quae extrinsecus sunt et quadrivium de intellectibus qui intrinsecus concepti sunt pertractat. Hae sunt septem ancillae quas Mercurius a Philologia in dotem accepit, quia nimirum eloquentiae, cui iuncta fuerit sapientia, omnis humana actio servit, sicut Tullius in libro rhetoricorum de studio eloquentiae dicit: ‚Hoc tuta, hoc honesta, hoc illustris, hoc eodem vita iucunda fiat. Nam hinc ad rem publicam plurima commoda veniunt, si moderatrix omnium praesto est sapientia. Hinc ad eos qui ipsam adepti sunt, laus, honos, dignitas, confluit. Hinc amicis quoque eorum certissimum et tutissimum praesidium est’»: s. auch Cicero, De inventione I, 5 (ed. cit., S. 16).

[56] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 210, Z. 1-5): «Ratio disserendi integrales partes habet inventionem et iudicium, divisivas vero demonstrationem, probabilem, sophisticam. Demonstratio est in necessariis argumentis et pertinet ad philosophos. Probabilis pertinet ad dialecticos et ad rhetores; sophistica, ad sophistas et cavillatores.»

[57] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 210, Z. 10-12): «Inventio est quae docet invenire argumenta et constituere argumentationes. Scientia iudicandi, quae de utroque iudicare docet.»

[58] Cicero, Topica II, 6, in: Cicero, Topica: Die Kunst, richtig zu argumentieren, lateinisch-deutsch, hrsg., übers. u. erl. von Karl Bayer, Düsseldorf/Zürich, Artemis u. Winkler, 1993, S. 8: «Cum omnis ratio diligens disserendi duas habeat partis, unam inveniendi, alteram iudicandi, utriusque princeps, ut mihi quidem videtur, Aristoteles fuit.»

[59] Vgl. Cicero, Topica I, 5 (ed. cit., S. 8); s. auch unsere Anm. 19.

[60] Vgl. Cicero, Topica I, 1 (ed. cit., S. 6).

[61] Nämlich De inventione I, 44 und Topica II, 6.

[62] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 210, Z. 8-10): «Quia enim ipsum genus, id est, dissertivam, integraliter constituunt, necesse est ut in compositione omnium specierum eius simul inveniantur.»

[63] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 210, Z. 17-21): «Per dissertivam non continentur, cum integraliter eam constituant. Nulla autem res esse possit simul integralis et divisiva pars eiusdem generis. Sicque philosophia non omnem scientiam continere videtur.»

[64] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 210, Z. 22 – S. 212, Z. 3): «Sed sciendum quod scientia duobus modis accipi solet, id est, pro aliqua disciplinarum, sicut cum dico dialecticam esse scientiam, id est, artem vel disciplinam, et pro qualibet cognitione, sicut cum dico scientiam habere eum qui scit aliquid.»

[65] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 212, Z. 9-13): «De omni scientia quae est ars vel disciplina, verum est dicere quod sit pars philosophiae divisiva, non autem universaliter dici potest, quod omnis scientia quae est cognitio, pars sit philosophiae divisiva.»

[66] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 212, Z. 16-17): «Disciplina autem est scientia quae absolutum finem habet, in quo propositum artis perfecte explicatur [...]»

[67] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 212, Z. 17-19): «[...] quod scientiae inveniendi vel iudicandi non convenit, quia neutra per se absoluta est [...]»

[68] Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 30 (ed. cit., S. 214, Z. 1-4): «[...] dicamus inventionem et iudicium proprie partes esse dissertivae et sub his vocibus univocari, in inferioribus tamen huius generis quibusdam proprietatibus, a se invicem differre.»

[69] Zum Leben und Werk Richards s. Jean Châtillon, «Richard de Saint-Victor», Dictionnaire de Spiritualité, XIII (1987), Sp. 593-654.

[70] Richard, Liber exceptionum I, I, 22, in: Liber exceptionum, texte critique avec introduction, notes et tables de Jean Châtillon (Textes philosophiques du Moyen Âge 5), Paris, J. Vrin, 1958, hier S. 111; Hugo, Didascalicon: De studio legendi II, 28 (ed. cit., S. 206, Z. 3); ibid. II, 29 (ed. cit., S. 208, Z. 4-5); ibid. II, 30 (ed. cit., S. 210, Z. 1-7; S. 214, Z. 8-10).

[71] Richard, De Trinitate 1, 1, in: De Trinitate, texte critique avec introduction, notes et tables, par Jean Ribaillier (Textes philosophiques du Moyen Âge 6), Paris, J. Vrin, 1958, hier S. 87, Z. 18: «Nisi credideritis, non intelligetis.» Im hebräischen Text steht: «Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht überstehen.»

[72] Richard, De Trinitate 1, 1 (ed. cit., S. 87, Z. 16-18): «In horum itaque cognitione vel assertione magis inniti solemus fide quam ratiocinatione, auctoritate potius quam argumentatione [...]»

[73] Zur Grundstruktur der Erkenntnistheorie Richards s. Hideki Nakamura, «‚Cognitio sui’ bei Richard von Sankt Viktor», in: Rainer Berndt/Matthias Lutz-Bachmann/Ralf Stammberg (Hrsg.), Scientia und Disciplina im 12. und 13. Jahrhundert. Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im Wandel, Berlin, Akademie Verlag, 2001 (im Druck).

[74] Richard, Benjamin maior 1, 3, in: Marc-Aeilko Aris, Contemplatio – Philosophische Studien zum Traktat‚ Benjamin Maior’ des Richard von St. Victor. Mit einer verbesserten Edition des Textes (Fuldaer Studien 6), Frankfurt am Main, Knecht, 1996, hier S. [8], Z. 25-28: «Ex imaginatione cogitatio, ex ratione meditatio, ex intelligentia contemplatio. Ecce tria ista, imaginatio, ratio, intelligentia. Intelligentia obtinet supremum locum, imaginatio infimum, ratio medium.»

[75] Benjamin maior 1, 3 (ed. cit., S. [9], Z. 9-11): «Per intelligentiam siquidem sinus mentis in immensum expanditur et contemplantis animi acies acuitur, ut capax sit ad multa comprehendenda et perspicax ad subtilia penetranda.»; ibid. 1, 3 (ed. cit., S. [9], Z. 19-22): «Specialiter tamen et proprie contemplatio dicitur, quae de sublimibus habetur, ubi animus pura intelligentia utitur. [...] contemplatio est in rebus [...] ex divina revelatione perspicuis.»

[76] Die Trinitätslehre in De Trinitate und die Kontemplationslehre in Benjamin maior, besonders die fünfte und sechste Stufe der Kontemplation, sind bei Richard eng miteinander verbunden, so daß sie synthetisch, aufeinander bezogen, auszulegen sind. Dazu vgl. Johannes Beumer, «Richard von St. Viktor. Theologe und Mystiker», Scholastik, 31 (1956), S. 213-238.

[77] Vgl. Richard, De Trinitate 1, 1 (ed. cit., S. 87, Z. 24-26).

[78] Richard, De Trinitate 1, 1 (ed. cit., S. 87, Z. 23-24): «Non ergo debent exercitatos sensus habentes de talium intelligentia comparanda desperare [...]» Hier ist mit dem Ausdruck exercitatus die Reinigung des Geistesvermögens durch die Tugenden angedeutet, die für die tiefe Einsicht unbedingt notwendig ist: vgl. Benjamin minor 72 (PL 196, Sp. 5 D): «Tergat ergo speculum suum, mundet spiritum suum, quisquis sitis videre Deum suum.»

[79] Richard, De Trinitate 1, 1 (ed. cit., S. 87, Z. 14-16): «Nam quedam ex his que credere iubemur, non modo supra rationem, verum etiam contra humanam rationem esse videntur, nisi profunda et subtilissima indagatione discutiantur, vel potius divina revelatione manifestentur.»

[80] Vgl. Richard, De Trinitate 1, 3 (ed. cit., S. 88, Z. 4-9).

[81] Richard, De Trinitate 2, 22 (ed. cit., S. 129, Z. 21-23): «[...] perfacile est intelligere quam ist ineffabile, immo et incomprehensibile quod ratio ratiocinando compellit de Deo nostro sentire.»; s. auch ibid. 3, 25 (ed. cit., S. 159, Z. 16-18); ibid. 4, 3 (ed. cit., S. 164, Z. 4-22).

[82] Richard, De Trinitate 1, 3 (ed. cit., S. 89, Z. 13-15): «De illis itaque proposuimus agere in hoc opere que iubemur ex catholice fidei regula, non de quibuscumque sed de eternis credere.»

[83] Richard, De Trinitate 1, 3 (ed. cit., S. 89, Z. 15-18): «Nam de redemptionis nostre sacramentis ex tempore factis, que credere iubemur et credimus, nichil in hoc opere indendimus. Nam agendi modus alius in his, alius in illis.»

[84] Richard, De Trinitate 1, 5 (ed. cit., S. 90, Z. 3-6): «Legi frequenter quod non sit Deus nisi unus, quod sit eternus, increatus, inmensus, quod sit omnipotens et omnium dominus, quod ab ipso est omne quod est, quod ubique est, et ubique totus, non per partes divisus. Legi de Deo meo quod sit unus et trinus, unus substantialiter, sed personaliter trinus.»

[85] Richard, De Trinitate 1, 5 (ed. cit., S. 90, Z. 14-16): «Cotidie audio de tribus quod non sint tres eterni, sed unus eternus; quod non tres increati, nec tres inmensi, sed unus increatus, et unus inmensus. Audio de tribus quod non tres omnipotentes, sed unus omnipotens; audio nichilominus quod non tres dii, sed unus est Deus, nec tres Domini, sed unus est Dominus.»

[86] Richard, De Trinitate 1, 5 (ed. cit., S. 91, Z. 26-27): «[...] si in huiusmodi studio studiosas mentes potero vel ad modicum adiuvare [...]»

[87] Richard, De Trinitate 1, 5 (ed. cit., S. 91, Z. 23-25): «[...] abundant in his omnibus auctoritates, sed non eque et argumentationes; in his omnibus experimenta desunt, argumenta rarescunt.»

[88] Vgl. Heinrich Denzinger/Peter Hünermann (Hrsg.), Enchiridion symbolorum et definitionum, quae de rebus fidei et morum a conciliis oecumenicis et summis pontificibus emanarunt: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, dt. und lat., Freiburg u.a., Herder, 200139, Nr. 75-76.

[89] Vgl. Hans Urs von Balthasar, Richard von St. Viktor: Die Dreieinigkeit, Übertragung und Bemerkungen von Hans Urs von Balthasar (Christliche Meister 4), Einsiedeln, Johannes, 1980, S. 37, seine Anm. 3. Das Bekenntnis wurde in der Kirche nachweislich seit dem 9. Jahrhundert in das offizielle sonntägliche Morgengebet eingefügt und am Dreifaltigkeitsfest liturgisch rezitiert.

[90] Der originale Text (Denzinger/Hünermann, Nr. 75, 10-18) lautet: «aeternus Pater, aeternus Filius, aeternus Spiritus Sanctus; et tamen non tres aeterni, sed unus aeternus; sicut non tres increati nec tres immensi, sed unus increatus [inmensus] et unus immensus [increatus]. Similiter omnipotens Pater, omnipotens Filius, omnipotens Spiritus Sanctus; et tamen non tres omnipotentes, sed unus omnipotens. Ita Deus Pater, Deus Filius, Deus Spiritus Sanctus; et tamen non tres Dii, sed unus Deus. Ita Dominus Pater, Dominus Filius, Dominus Spiritus Sanctus; et tamen non tres Domini, sed unus est [!] Dominus.» Die hier unterstrichenen Teile zitiert Richard in derselben Reihenfolge: s. Richard, De Trinitate 1, 5 (ed. cit., S. 90, Z. 14-16): s. o. unsere Anm. 85.

[91] S. o. unsere Anm. 85 und 86.

[92] S. o. unsere Anm. 87.

[93] Vgl. von Balthasar, op. cit. (s. o. unsere Anm. 89), 38, seine Anm. 4.

[94] Die Begriffe argumentationes, argumenta und rationes sind in De Trinitate in demselben Sinne verwendet vgl. Richard, De Trinitate 1, 5 (ed. cit., S. 91, Z. 23-25); ibid. 1, 4 (ed. cit., S. 89, Z. 6); ibid. 1, 4 (ed. cit., S. 89, Z. 8-10).

[95] Richard, De Trinitate 1, 4 (ed. cit., S. 89, Z. 4-7): «Erit itaque intentionis nostre in hoc opere ad ea que credimus, in quantum Dominus dederit, non modo probabiles verum etiam necessarias rationes adducere, et fidei nostre documenta veritatis enodatione et explanatione condire.»

[96] Richard, De Trinitate 1, 4 (ed. cit., S. 89, Z. 7-10): «Credo namque sine dubio quoniam ad quorumlibet explanationem que necesse est esse, non modo probabilia, immo etiam necessaria argumenta non deesse [...]»; ibid. (15-19): «Que vero eterna sunt, omnino non esse non possunt; sicut nunquam non fuerunt, sic certe nunquam non erunt; immo semper sunt quod sunt, nec aliud, nec aliter esse possunt. Videtur autem omnino inpossibile omne necessarium esse necessaria ratione carere.»

[97] Vgl. Richards Bestimmung des höchsten Seins in der Gotteslehre in De Trinitate 1, 4 (ed. cit., S. 91, Z. 11): «esse [...] a semetipso.»; dazu s. auch Benjamin maior 4, 17 (ed. cit., S. [110], Z. 19-22): «Ubi vero summa simplicitas, totum, quod est, unum idemque ipsum est. Unum itaque idemque est ei esse et vivere, intelligere et posse, bonum et beatum esse et vide quam hoc sit incomprehensibile. Non ergo est aliunde potens, aliunde sapiens, aliunde bonus et aliunde beatus.»

[98] Vgl. Nico den Bok, op. cit., S. 186; s. auch Peter Hofmann, «Analogie und Person. Zur Trinitätsspekulation Richards von St. Viktor», Theologie und Philosophie, 59 (1984), S. 191-234, hier S. 205f.

[99] Richard, Benjamin maior 4, 3 (ed. cit., S. [88], Z. 6-7): «Quidquid enim in illa summa et divina essentia esse constiterit, summa et incommutabili ratione subsistit.»

[100] Richard, Benjamin maior 4, 3 (ed. cit., S. [88], Z. 3-6): «Praemonere in primis volumus quia in summis et divinis, cum aliquid praeter rationem vel contra rationem esse asserimus, de ratione humana non de ratione divina hoc intelligi volumus.»; ders., De Trinitate 1, 4 (ed. cit., S. 89, Z. 7-11): «Credo namque sine dubio quoniam ad quorumlibet explanationem que necesse est esse, non modo probabilia, immo etiam necessaria argumenta non deesse, quamvis illa interim contingat nostram industriam latere.»

[101] Richard, De Trinitate 3, 24 (ed. cit., S. 158, Z. 13-16): «Nunc ergo attende, illa omniformis et omnifaria magnitudinis coequalitas in illa summa Trinitate quam incomprehensibilis sit, ubi unitas pluralitati non cedit, nec pluralitas unitatem excedit.»; ibid. 3, 25 (ed. cit., S. 159, Z. 16-18): «Nam que humana vel angelica intelligentia poterit unquam, ut de ceteris taceam, ipsam divinitatis inmensitatem comprehendere?»

[102] Vgl. Ewert Cousins, «A Theology of Interpersonal Relations», Thought, 45 (1970), S. 56-82, hier S. 63-64.

[103] Richard, Benjamin minor 72 (PL 196, Sp. 5 C-D): «Praecipuum et principale speculum ad videndum Deum, animus rationalis, absque dubio invenit seipsum. Si enim invisibilia Dei per ea quae facta sunt, intellecta conspiciuntur (Rom. I), ubi, quaeso, quam in eius imagine cognitionis vestigia expressius impressa, reperiuntur? Hominem secundum animam ad Dei silimitudinem factum et legimus (Gen. I), et credimus, et idcirco quandiu per fidem, et non speciem ambulamus (II Cor. V), quandiu adhuc per speculum et in aenigmate videmus (I Cor. XIII), ad eius ut ita dixerim, imaginariam visionem aptius speculum, quam spiritum rationalem invenire non possumus.»

[104] Richard, Benjamin minor 72 (PL 196, Sp. 52 A): «Exterso autem speculo et diu diligenter inspecto, incipit ei quaedam divini luminis claritas interlucere, et immensus quidam insolitae visionis radius, oculis eius apparere. Hoc lumen oculus eius irradiaverat, qui dicebat: Signatum est super nos lumen vultus tui, Domine, dedisti laetitiam in corde meo (Psal. IV). Ex huius igitur luminis visione quam admiratur in se, mirum in modum accenditur animus, et animatur ad videndum lumen, quod est supra se.»; ders., Benjamin maior 3, 10 (ed. cit., S. [68], Z. 23-25): «Ubi, obsecro, summae sapientiae claritas poterit tibi melius elucescere, quam in expressa illius imagine, quam in excellentissimo eius opere, animae videlicet creatione, reparatione, glorificatione?» So steht Richard deutlich in der augustinischen Tradition, in der die Erkenntnislehre der Erleuchtung mit der Ebenbildhaftigkeitslehre eng verbunden ist.

[105] Richard, De Trinitate 2, 22 (ed. cit., S. 129, Z. 21-23): «Ex his, ut arbitror, perfacile est intelligere quam ineffabile, immo et incomprehensibile quod ratio ratiocinando compellit de Deo nostro sentire.»

[106] Vgl. Anselm von Canterbury, Cur deus homo 1, 3 (Opera Omnia II, S. 50): «Quamvis enim illi ideo rationem quaerant, quia non credunt, nos vero, quia credimus: unum idemque tamen est quod quaerimus.»

[107] Richard, De Trinitate 3, 1 (ed. cit., S. 135, Z. 22-26): «Oportet autem in his que ad querendum restant tanto maiorem diligentiam inpendere eoque ardentius insistere quanto minus in Patrum scriptis invenitur unde possimus ista, non dico ex Scripturarum testimoniis, sed ex rationis attestatione convincere.»

[108] Vgl. Anselm von Canterbury, Monologion 1 (Opera Omnia I, S. 13): «[...] puto quia ea ipsa ex magna parte, si vel mediocris ingenii est, potest ipse sibi saltem sola ratione persuadere.»

[109] Anselm von Canterbury, Proslogion 4 (Opera Omnia I, S. 104): «Gratias tibi, bone Domine, gratias tibi, quia quod prius credidi te donante, iam sic intelligo te illuminante, ut, si te esse nolim credere, non possim non intelligere.»

[110] Richard, Benjamin maior 2, 13 (ed. cit., S. [35], Z. 12-15): «Hic primo illa quae docet hominem scientiam, die sapientia, lux illa, quae illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum, incipit se ingerere et lucis suae radios nunc mentis oculis infundere, nunc subtrahendo iterum abscondere.»; ders., Mysticae adnotationes in psalmos. Adnotatio in Psalmum 90 (PL 196, Sp. 397 D): «Omnino et absque dubio invalida est humana discretio ad veritatis iudicium nisi illo illustrata lumine, quod illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum.»; s. auch ders., De eruditione hominis interioris 2, 47 (PL 196, Sp. 1344 B). Die wiederholte Formulierung, illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum, zeigt ausdrücklich die gänzliche Abhängigkeit der menschlichen Erkenntnis durch die Erleuchtung von seiten Gottes. Das ist das grundlegende Prinzip der theologischen Erkenntnislehre Richards zusammen mit der unentbehrlich inchoativen Funktion des Glaubens.

[111] Richard, Benjamin maior 1, 12 (ed. cit., S. [21], Z. 1-4): «Sed in ultimis istis duobus [i.e. contemplationum] totum pendet ex gratia et omnino longinqua sunt, et valde remota ab omni humana industria, nisi in quantum unusquisque coelitus accipit, et angelicae sibi similitudinis habitum divinitus superducit.»; ibid. 4, 3 (ed. cit., S. [88], Z. 38 – S. [89], Z. 1): «Et omnino in eorum [i.e. ea quae sunt supra rationem et praeter rationem] investigatione, discussione, assertione nihil facit ratio humana, nisi fuerit fidei admixtione subnixa.»

[112] Richard, De Trinitate 1, 1 (ed. cit., S. 87, Z. 16-22): «In horum [i.e. ea que non modo supra rationem, verum etiam contra rationem esse videntur] itaque cognitione vel assertione magis inniti solemus fide quam ratiocinatione, auctoritate potius quam argumentatione, iuxta illud Prophete: nisi credideritis, non intelligetis. Sed et hoc in his verbis diligenter attendandum videtur, quia horum quidem intelligentia hac nobis auctoritate non generaliter, sed conditioneliter neganda proponitur [...]»; s. auch ibid. 6, 22 (ed. cit., S. 260, Z. 53-56): «‚Non capio’, inquis, ‚non intelligo!’ Sed quod per intelligentiam capere non potes, per fidei devotionem credere potes. Alioquin tibi tuisque similibus dicitur: Si non credideritis, non intelligetis.».