Home | Novidades | Revistas | Nossos Livros | Links Amigos Zum Einfluß des ciceronisch-boethianischen accessus auf die Wissenstheorie in Gundissalinus’ Divisionsschrift
Alexander Fidora
A.Fidora@em.uni-frankfurt.de
J. W. Goethe-Universität Frankfurt
Forschungskolleg Wissenskultur
I. Einleitung
Als das mit Abstand wirkungsmächtigste Werk des Dominicus Gundissalinus (ca. 1110-1190) kann seine um 1150 entstandene Einleitungsschrift in die Philosophie De divisione philosophiae gelten, durch die eine Vielzahl neuer Wissenschaften in die lateinische Philosophie des Mittelalters eingeführt wurde, etwa Optik («De aspectibus») und Statik («De ponderibus»), aber auch die Metaphysik, wobei Gundissalinus diese neuen Wissenschaften zum Großteil aus den von ihm und seinen Toledaner Kollegen erst kürzlich aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzten Schriften schöpfte. Die Divisio bestimmte mit ihrem Verständnis des Status der einzelnen Wissenschaften, der Beschreibung ihres Verhältnisses zueinander und der auf Aristoteles zurückweisenden Fundamentaleinteilung derselben in praktische und theoretische Wissenschaften das Wissenschaftsverständnis der Zeit nicht nur seinem Inhalt, sondern auch seiner Form nach neu, so z.B. durch die Aufnahme der über Avicenna vermittelten Wissenschaftstheorie der Analytica posteriora. Vor diesem Hintergrund wurde Gundissalinus’ Divisionsschrift für die Philosophiegeschichte zum paradigmatischen Ausdruck des sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts abzeichnenden Wandels in der Wissens- und Wissenschaftstheorie, den die Rezeption arabischer Quellen auslöste. Und dies gewiß zu Recht, denn der Einfluß der arabisch-jüdischen Quellen, insbesondere des Avicenna, des al-Farabi und des al-Ghazali, ist in Gundissalinus’ Werken insgesamt, und nicht nur in seiner Divisionsschrift, unverkennbar. Dennoch darf dies bei aller Begeisterung für den Toledanischen Kulturaustausch nicht dazu führen, die lateinisch-christlichen Wurzeln des Gundissalinus aus den Augen zu verlieren, die seine Rezeption der arabischen Philosophie in erheblichem Maße strukturieren, ja letztlich selbst ein entscheidender Teil derselben sind. [1] Wie sehr Gundissalinus der eigenen lateinisch-christlichen Tradition verpflichtet ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Grundstruktur selbst von De divisione, die sämtliche Wissenschaften nach einem einheitlichen Schema, den sogenannten κεφαλαια oder auch διδασκαλικα, abhandelt, das sind gleichsam pädagogische Fragen, die in der Tradition der spätantiken Aristoteles-Kommentare die Darstellung der einzelnen Wissenschaften strukturieren. Denn auch wenn dieses Strukturprinzip vom Herausgeber der Divisionsschrift, Ludwig Baur, als eindeutig arabische Anleihe des Gundissalinus ausgemacht wurde, [2] so ist dieses jedoch, wie die vorliegende Untersuchung darlegen will, fester Bestandteil auch der lateinisch-christlichen Tradition. Zwar ist dieses Strukturprinzip über die alexandrinischen Aristoteles-Kommentare auch in die arabische Welt gelangt, doch führen über Cicero und Boethius und deren spezifische Interpretation der κεφαλαια direkte(re) Linien zu Gundissalinus, bei dem die κεφαλαια ganz im Sinne der beiden letztgenannten Autoren gebraucht werden.
Im folgenden soll daher zunächst die spätantike Konzeption der κεφαλαια bzw. διδασκαλικα bei einer von Gundissalinus Hauptquellen, nämlich Boethius betrachtet werden, sowie bei Cicero, auf den Boethius offenbar zurückgreift. Daran anschließend wird die Entwicklung der κεφαλαια innerhalb des accessus-Schemas der Schule von Chartres – mit der Gundissalinus ganz offensichtlich im Austausch stand – untersucht, um schließlich Gundissalinus’ eigene Rezeption des ciceronisch-boethianischen accessus und ihre systematischen Implikationen zu würdigen.
II. Die spätantiken Grundlagen der κεφαλαια bzw. διδασκαλικα
Beginnen wir mit Boethius: Eine erste Auflistung der κεφαλαια bzw. διδασκαλικα gibt der Anicier in Antwort auf seinen Gesprächspartner Fabius in der ersten Edition seiner In Isagogen Porphyrii commenta, wo es heißt, daß folgende sechs Punkte jeder Erörterung (omni expositione) eines Werkes vorauszuschicken seien: operis intentio; utilitas; ordo; si eius cuius esse opus dicitur, germanus propriusque liber est; operis inscriptio; ad quam partem philosophiae cuiuscumque libri ducatur intentio. [3] Bereits Brandt, der Editor der In Isagogen Porphyrii commenta, weist in seinem Vorwort immer wieder auf die starke Dependenz des boethianischen Werkes von alexandrinischen Aristoteles-Kommentaren hin, und auch im Falle der διδασκαλικα kann als sicher gelten, daß Boethius diese aus der erwähnten Tradition der spätantiken Aristoteles-Kommentare übernimmt, und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach von Ammonios Hermeiou, in dessen Schule Boethius womöglich studierte. [4] So finden sich denn auch in Ammonios’ Kommentar zur Isagoge [5] die folgenden κεφαλαια wieder: σκοπος (= intentio), χρησιμον (= utilitas), γνησιον (= Herkunft des Autors), ταξις (= ordo), επιγραφη (= titulus), υπο ποιον μερος (= ad quam partem), die allerdings nicht nur für Ammonios, sondern cum grano salis für die gesamte Tradition der spätantiken Aristoteles-Kommentare kennzeichnend sind. [6] Diese noch sehr bibliographische und rezeptionsorientierte Aufstellung wird in Boethius’ späterer Schrift [7] De topicis differentiis dahingehend erweitert und v.a. verallgemeinert, daß sie nicht nur die Lektüre eines bestimmten Textes anleitet, sondern zum Strukturmerkmal der artes schlechthin wird. Hier heißt es nun, daß zunächst folgende Fragen zu behandeln seien:
De cuius quidem rei traditione nihil ab antiquis praeceptoribus accepimus. [...] Quam partem doctrinae vacuam, ut possumus, aggrediamur. Dicemus itaque de generis artis, speciebus, et materia, et partibus, et instrumento, instrumentique partibus, opere etiam officioque actoris et finis. [8]
Die κεφαλαια dienen hier nicht mehr der Erschließung eines bestimmten Werkes, sondern erfüllen in bewußter Abgrenzung von der Kommentar-Tradition («nihil ab antiquis praeceptoribus accepimus») die Aufgabe einer Strukturierung des Gegenstandes selbst und nicht nur der über ihn vorhandenen Literatur. Boethius vollzieht damit eine entscheidende Wendung von der Kommentierung hin zur systematischen Ausarbeitung wissens- und wissenschaftstheoretischer Fragestellungen, wenn auch diese Wende keinen direkten und unüberwindbaren Bruch mit der spätantiken Kommentar-Tradition darstellt. Denn insofern diese im Corpus aristotelicum den Kanon der Wissenschaften überliefert sieht, führt eine Strukturierung der aristotelischen Bücher in letzter Konsequenz zu einer Strukturierung der Wissenschaften selbst. Boethius steht damit gewiß weiterhin in der Tradition der spätantiken Aristoteles-Kommentatoren, zugleich geht er jedoch gleichsam mit ihnen über sie hinaus.
Unmittelbares Vorbild dieser Fassung der κεφαλαια sind denn auch nicht die griechischen Aristoteles-Kommentare, vielmehr scheint für die zweite Fassung Ciceros De inventione Pate gestanden zu haben, auch wenn der Anicier über die fünf dort genannten Fragen, nämlich genus, officium, finis, materia und partes hinausgeht:
Sed antequam de praeceptis oratoriis diciums, videtur dicendum de genere ipsius artis, de officio, de fine, de materia, de partibus. Nam his rebus cognitis facilius et expeditius animus unius cuiusque ipsam rationem ac viam artis considerare poterit. [9]
Aus welchen Quellen Cicero selbst schöpft, ist unklar. Es scheint jedoch gewiß, daß diese zweite, ciceronische Formulierung der κεφαλαια im Gegensatz zur ersten nicht unmittelbar auf Vorlagen der griechischen Spätantike zurückgreifen kann, und damit womöglich erst im lateinischsprachigen Raum entsteht. Inhaltlich ist sie mit den Kategorien des genus, der materia, der partes und – bei Boethius – des instrumentum in jedem Fall dem aristotelischen Modell der Wissenschaften verpflichtet.
Für die von Ludwig Baur in Anschlag gebrachte arabische Tradition gilt hingegen, daß die κεφαλαια hier im ersten Sinne verstanden werden, d.h. als literarische Topoi innerhalb der Kommentarliteratur zur aristotelischen Logik, so etwa in den Kommentaren zur Isagoge oder zur Kategorienschrift. [10] Im Kitab Isha al-’ulum, einer enzyklopädischen Darstellung aller Wissenschaften, die von Gundissalinus und später Gerhard von Cremona übersetzt wurde und von ersterem in seiner Divisionsschrift allenthalben herangezogen wird, nennt al-Farabi anläßlich der Behandlung der Logik folgende κεφαλαια: Nutzen; Gegenstände, von denen gehandelt wird; Bedeutung des Titels; Aufzählung der Teile und ihrer Inhalte. [11] Bezeichnenderweise wird nur die Logik nach dieser Art behandelt, was damit zu erklären ist, daß es sich hier eben um Topoi im Rahmen der Behandlung der Schultradition der Logik handelt. Ebenfalls erwähnenswert scheint mir, daß diese κεφαλαια sowohl in Gundissalinus’ als auch in Gerhards Übersetzung des Traktates, der unter dem lateinischen Namen De scientiis bekannt wurde, fehlen. [12] Schon deshalb kommt al-Farabi nicht als Inspirationsquelle für Gundissalinus in Frage.
Es gilt mithin festzuhalten, daß die κεφαλαια bei Cicero und beim späten Boethius im Unterschied zu ihrem griechischen Ursprung und auch in Abhebung von der arabischen Tradition eine deutliche Transformation erfahren: die von den beiden Römern vorgelegte zweite Version der κεφαλαια ist deutlich wissens- und wissenschaftstheoretisch aufgeladen.
Allerdings läßt sich feststellen, daß die erste Formulierung der κεφαλαια vom frühen Mittelalter bis zum 12. Jahrhundert gegenüber der zweiten deutlich dominiert. So sind die sogenannten accessus ad auctores – das lateinische Pendant der κεφαλαια – des Sedulius Scottus und des Remigius von Auxerre, auf deren Grundlage der Rhetorik-Unterricht in den Schulen ab dem 9. Jahrhundert abgehalten wurde, eindeutig an der ersten Fassung ausgerichtet, die diesen Autoren neben Boethius v.a. über den spätantiken Grammatiklehrer Servius bekannt war. Nur vereinzelt greifen sie auf Elemente der zweiten Formulierung zurück, etwa im Fall von materia und utilitas; diese werden dann allerdings in den Kontext der Kommentierung zurückversetzt, so daß das in ihnen vorhandene, von Cicero und Boethius intendierte, strukturierende Moment für die Wissenschaften im Frühmittelalter abhanden kommt. [13]
III. Die Schule von Chartres und der accessus
Gerade diese zweite Fassung der κεφαλαια aber sollte im 12. Jahrhundert ein bedeutendes Gewicht erhalten, und zwar zunächst und v.a. im Umkreis der Schule von Chartres. Dabei sind es nicht die Boethius-Kommentare, in denen sich das Interesse an den ciceronisch-boethianischen κεφαλαια kristallisiert, sondern vorwiegend die den triviums-Wissenschaften gewidmeten Chartreser Glossen, v.a. zu Cicero und Priscian. So findet sich die wahrscheinlich erste Bezeugung des von der ciceronisch-boethianischen Fassung der κεφαλαια beeinflußten accessus in den Glosule super Priscianum des Wilhelm von Conches (ca. 1080-1154), die um 1120 entstanden sein dürften. Entsprechend heißt es hier:
In principio huius artis haec sunt consideranda: quid sit ipsa ars, quod nomen artis, quae causa nominis, quod genus, quod officium, quis finis, quae materia, quae partes, quis artifex, quae intentio auctoris. [14]
In diesem accessus zeigt sich bereits sehr deutlich, daß trotz einiger Reminiszenzen an die erste Fassung der κεφαλαια (intentio auctoris) die Elemente aus der zweiten Fassung überwiegen (genus, officium, finis, materia, partes, artifex [= actor]). Zwar fehlen scheinbar die beiden Fragen nach instrumentum und species, die Boethius noch nennt, doch dies nicht ohne Grund, denn Wilhelm selbst verweist unmittelbar nach dem zitierten Passus darauf, daß die Grammatik weder instrumentum noch species besitzt. Insgesamt zielt der accessus damit in erster Linie nicht auf eine bio-bibliographische Einführung in das zu kommentierende Werk, die Institutiones grammaticae des Priscian, vielmehr geht es Wilhelm mit Cicero und Boethius um die Bestimmung des Status und der Struktur der in Frage stehenden Wissenschaft, nämlich der Grammatik.
Ausführlicher noch spiegelt sich die zweite Fassung der κεφαλαια in dem in den 30er Jahren des 12. Jahrhunderts entstandenen Kommentar des Petrus Helias († ca. 1166) zu Ciceros De inventione. Hier nennt Petrus Helias der Reihe nach folgende Fragen:
Sicut ordo nostrae doctrinae exigit, ita quoque circa artem rhetoricam consideranda sunt haec: Primo quid sit rhetorica, deinde quod genus rhetoricae, quae materia, quod officium, quis finis, quae partes, quae species, quod instrumen-tum, quis artifex, quare rhetorica vocetur, quo ordine docenda sit et discenda. [15]
Damit finden sich sämtliche Fragen aus der zweiten Fassung der κεφαλαια des Boethius, wobei diese noch um die Frage nach dem ordo aus der ersten Fassung erweitert werden. Bezeichnend ist, daß Petrus Helias neben dieser Version der κεφαλαια auch jene erste Fassung kennt, die er aber getrennt verhandelt. Nachdem er in dem zitierten Passus circa artem fragt, bringt er später auch Fragen circa librum: quae auctoris intentio, utilitas operis, titulus, utrum ad philosophiam pertineat, die die erste Fassung der κεφαλαια aufgreifen. Damit nimmt er eine klare Unterscheidung zwischen beiden accessus-Schemata vor, die die Fragen ausdrücklich auf die Wissenschaft selbst bzw. auf das Werk bezieht.
In seinem später, um die Mitte des Jahrhunderts verfaßten Kommentar Super summam Priscianum verzichtet Petrus Helias dann gänzlich auf die Fragen circa librum und behandelt allein jene circa artem:
Ad maiorem artis grammaticae cognitionem primo videndum est quid sit grammatica, quod genus eius, quae materia, quod officium, quis finis, quae partes, quae species, quod instrumentum, quis artifex, quare grammatica dicatur, quo ordine etiam docenda sit et discenda. [16]
Diese sind sowohl inhaltlich als auch in ihrer Reihenfolge identisch mit jenen Fragen aus seinem Cicero-Kommentar, so daß es scheint, der accessus des Petrus Helias habe sich bewährt und konsolidiert. Zuletzt ist schließlich noch der vielleicht bekannteste Chartreser accessus zu nennen, der aus der Feder Thierrys von Chartres stammt und sich in seinem Kommentar zu Ciceros De inventione findet. Hier heißt es gleich zu Beginn:
Circa artem rhetoricam decem consideranda sunt: quid sit genus ipsius artis, quid ipsa ars sit, quae eius materia, quod officium, quis finis, quae partes, quae species, quod instrumentum, quis artifex, quare rhetorica vocetur. [17]
Dieser accessus, so die nahezu einhellige Meinung der bisherigen neueren Forschung, [18] sei auch das Vorbild für Gundissalinus’ im nächsten Abschnitt zu besprechendes accessus-Schema gewesen. Doch sind berechtigte Bedenken gegen diese Meinung vorgetragen worden, so zunächst von Häring, [19] der darauf verweist, daß Thierry in seinem Kommentar als gesetzter Lehrer auftritt, der bereits die Höhen und Tiefen des Schulbetriebs durchlaufen habe. Anders als Hunts Datierung, der Thierrys Kommentar als ein Jugendwerk ausgibt, handele es sich damit um ein Spätwerk, so daß dieser durchaus von Gundissalinus’ um 1150 niedergeschriebener Divisio beeinflußt sein könnte. Ferner macht Häring die teilweise konfuse Anordnung der Fragen bei Thierry geltend; insbesondere die Vertauschung der Fragen nach dem quid sit und dem genus wirkt unbeholfen. Diese Bedenken sind durch die kritische Edition der Summa super Priscianum von Leo Reilly 1993 noch verstärkt worden. So ist nach Reilly davon auszugehen, daß Gundissalinus zwar durchaus den Chartreser accessus adaptiert, jedoch nicht von Thierry, sondern aus Petrus Helias’ frühem Cicero-Kommentar. [20] Petrus Helias’ Priscian-Kommentar reagiert nach Reilly seinerseits auf Gundissalinus’ De divisione und korrigiert eine von Gundissalinus aus Petrus Helias’ Cicero-Kommentar falsch wiedergegebene Ansicht. [21] Beide Werke, d.h. De divisione und die Summa super Priscianum, bilden dann den Anknüpfungspunkt für Thierrys Kommentar.
Wie immer auch diese Frage zu entscheiden ist, so kann doch als unstrittig gelten, daß in der Schule von Chartres die zweite Fassung der ciceronisch-boethianischen κεφαλαια wiederentdeckt wird und daß Gundissalinus über Chartreser Autoren, sei es Petrus Helias, sei es Thierry von Chartres, erstmalig mit ihr in Berührung kommt. Unhaltbar ist dagegen, wie bereits erwähnt, Ludwig Baurs Ansicht einer arabischen Filiation. [22]
Zugleich, und unbeschadet der Chartreser Verdienste, muß nach diesem Durchgang jedoch auch festgehalten werden, daß der Chartreser Gebrauch der κεφαλαια zwar bereits deutlich zeigt, daß diese im Sinne von Strukturmomenten der Wissenschaften verstanden werden, doch bleibt ihr Anwendungskontext immer noch in die Kommentierung eingebunden, sei es des Cicero oder des Priscian.
IV. Gundissalinus’ Gebrauch der διδασκαλικα: materia und instrumentum
Anders verhält es sich bei Gundissalinus: In seiner Schrift De divisione philosophiae begegnet die zweite Fassung der ciceronisch-boethianischen κεφαλαια gänzlich losgelöst vom spätantiken oder gar arabischen Kommentar-Kontext; mehr noch, sie dient nicht mehr nur zur Beschreibung des Status und der Struktur einer bestimmten Wissenschaft, der Rhetorik oder der Grammatik, sondern wird in der Darstellung des Gundissalinus zum Leitfaden der Analyse nahezu aller vorgestellten Wissenschaften. [23] So beginnt die Divisionsschrift mit der programmatischen Ankündigung:
Circa unamquamque autem earum [= artium] haec inquirenda sunt scilicet: quid ipsa sit, quod genus est, quae materia, quae partes, quae species, quod officium, quis finis, quod instrumentum, quis artifex, quare sic vocetur, quo ordine legenda sit. [24]
In Bezug auf jede Wissenschaft soll also der Fragenkatalog, der in der Tat große Ähnlichkeit mit jenem des Petrus Helias hat, durchlaufen werden, um so zu einer vollständigen Darstellung der Wissenschaften auf der Grundlage gemeinsamer Kriterien zu gelangen. Wohl unterschieden von diesem Fragenkatalog, und in erneuter Übereinstimmung mit Petrus Helias, findet sich dann am Ende der Schrift ein Katalog, der die κεφαλαια circa librum vereinigt: intentio auctoris, quae utilitas operis, nomen etiam auctoris, titulus operis, ordo quoque legendi et ad quam partem philosophiae spectet et de distinctione libri in partes et capitula. [25] Wie Petrus Helias unterscheidet Gundissalinus damit deutlich die zwei Fassungen der κεφαλαια, wobei die erste Fassung gleichsam nur als Appendix zu seiner Schrift fungiert, während die zweite auf Cicero und Boethius zurückgehende Fassung die Systematik der gesamten Schrift vorgibt, und dies losgelöst von aller Kommentararbeit. Damit gewinnt die zweite Fassung der ciceronisch-boethianischen κεφαλαια ihren vollen Sinn zurück.
Dieses erneuerte, von den Chartreser Autoren bereits vorbereitete Verständnis der κεφαλαια eröffnet Gundissalinus zugleich neue wissens- und wissenschaftstheoretische Perspektiven. Unter den Titeln materia und instrumentum scientiae greift Gundissalinus so Fragen nach der Unterscheidung der Wissenschaften hinsichtlich ihrer Gegenstände und ihrer Methoden sowie nach ihrem axiomatischen Charakter auf, die er zuvor bereits im Kontext der boethianischen Opuscula sacra behandelt hatte, und führt sie fort. So spiegelt sich gleich in der ersten Frage nach der Materie einer jeden Wissenschaft die Unterscheidung der Wissenschaften gemäß ihrer Gegenstände, die Gundissalinus bereits in Anlehnung an De Trinitate untersucht hatte. [26] Gundissalinus gibt nun in Antwort auf diese Frage in jedem Kapitel seiner Darstellung, und d.h. für jede von ihm behandelte Wissenschaft, ihren klar abgegrenzten Gegenstandsbereich an. So ist nach Gundissalinus der Gegenstand der Physik der Körper, jedoch nicht als solcher, sondern insofern er Bewegung und Ruhe unterliegt. [27] Jener der Mathematik ist die Quantität, die sich in magnitudo und multitudo unterscheiden läßt, wobei diese ihrerseits in magnitudo mobilis (Astronomie) und immobilis (Geometrie) und multitudo per se (Arithmetik) und relata (Musik) zerfallen. [28] Gegenstand der Metaphysik schließlich, um nur die wichtigsten Wissenschaften zu nennen, ist das ens, [29] und nicht etwa Gott. [30] Die im Anschluß an Boethius’ Schrift De Trinitate und Avicennas Kitab al-Shifa bei Gundissalinus beobachtbaren Versuche einer Unterscheidung der Gegenstandsbereiche der Wissenschaften werden damit mit Hilfe des διδασκαλικον materia auf einem deutlich höheren Differenzierungsniveau aufgegriffen und fortgesetzt. Zugleich verschränkt sich in der Frage nach der Materie mit der Behandlung des Gegenstandsbereichs auch jene nach der Axiomatik der Wissenschaften. Immer wieder findet sich im Rahmen der Diskussion der Materie der einzelnen Wissenschaften der Hinweis, daß keine Wissenschaft ihre Materie aufstellen kann, so im Kapitel der Metaphysik, aber auch im Logik- und Arithmetik-Kapitel. In letzterem beschränkt sich Gundissalinus nicht darauf, nur festzustellen, daß «nullius enim scientiae est stabilire materiam suam», sondern gibt darüber hinaus die weitere positive Bestimmung, wie denn dann die Materie einer jeden Wissenschaft in dieser betrachtet werden soll, wenn nicht, um sie zu beweisen: «sed ipsa [= scientia] assignat proprietates eius et ea quae accidiunt ei sive ex se, sive ex commixtione materiae.» [31] Gegenstand der wissenschaftlichen Erörterung einer jeden Wissenschaft ist also nicht das Daß ihres Gegenstandes, sondern das Was. Der Gegenstand selbst ist ganz im Sinne eines axiomatischen Wissenschaftskonzepts als positiv gesetzter zu betrachten – ein wissenschaftstheoretischer Grundsatz, den Gundissalinus immer wieder explizit auf Aristoteles zurückführt. Auch hier lassen sich somit interessante Präzisierungen gegenüber früheren Behandlungen des Themas durch Gundissalinus feststellen. [32]
Die Unterscheidung der Wissenschaften gemäß ihrer Methoden schließlich wird von Gundissalinus unter dem διδασκαλικον instrumentum reformuliert. So heißt es zum instrumentum der Physik, dieses sei der «syllogismus dialecticus, qui constat ex veris et probabilibus. Unde Boethius: ‚in naturalibus rationaliter versari oportet’» [33] . Zur Methode der Mathematik heißt es, diese sei die demonstratio, welche «est syllogismus constans ex primis et veris propositionibus» [34] . Und bei der Diskussion der Methode der Metaphysik, um auch hier wieder nur die drei prominentesten Wissenschaften zu nennen, steht ebenfalls zu lesen, diese sei tout court die demonstratio. [35] Interessant ist, daß die boethianische Methoden- und Vermögenslehre aus De Trinitate, die zuvor bereits von Gundissalinus in anderem Zusammenhang unter Rückgriff auf Boethius und Avicenna behandelt wurde, [36] hier ausdrücklich mit dem Syllogismus in Verbindung gebracht wird, wobei in der Unterscheidung von dialektischem Syllogismus und demonstratio neue, letztlich aristotelische Motive, die auch in den Pariser Dialektik-Diskussionen der Zeit eine bedeutende Rolle spielen, in den boethianischen Ansatz integriert werden.
Bereits nach diesem kurzen Blick auf die materia und instrumentum läßt sich festhalten, daß die Rezeption der zweiten Fassung der ciceronisch-boethianischen κεφαλαια – vermittelt über die Chartreser Autoren – bei Gundissalinus in einer innovativen, weil wissenstheoretisch gewendeten Weise gedeutet und gebraucht wird, die es dem Archidiakon von Cuéllar erlaubt, seine in Anlehnung an andere boethianische Schriften entwickelten aristotelischen Grundpositionen zur Wissens- und Wissenschaftstheorietheorie auszubauen und zu verfeinern, womit die κεφαλαια vollends zu systematisch relevanten epistemologischen Grundbegriffen werden.
V. Species und partes und die Subordination der Wissenschaften
Doch unterstützt die zweite Fassung der ciceronisch-boethianischen κεφαλαια nicht nur Gundissalinus’ bereits im Anschluß an andere boethianische Schriften erarbeitete epistemologische Überlegungen zu Gegenstandsbreich und Methode der Wissenschaften, sondern bietet ihm zudem Material für die Ausarbeitung weiterer wissenschaftstheoretischer Theoriebausteine. Diese eigenständige Weiterentwicklung des accessus-Schemas in Richtung auf eine Wissens- und Wissenschaftstheorie zeigt sich u.a. in einer folgenreichen Verschiebung des Schwerpunkts innerhalb der zweiten ciceronisch-boethianischen Fassung der κεφαλαια. Diese Verschiebung soll die folgende tabellarische Auflistung der Fragen der verschiedenen accessus des Gundissalinus, des Cicero, des Boethius und der Chartreser Autoren verdeutlichen:
D.G.
Cicero
In Isag.
De top.
W. v .C.
P.H.
Th .v.C.
Quid
Quid (1)
Quid (1)
Quid (2)
Genus
Genus (1)
Genus (1)
Genus (4)
Genus (2)
Genus (1)
Materia
Materia (4)
Materia (3)
Materia (7)
Materia (3)
Materia (3)
Partes
Partes (5)
Partes (4)
Partes (8)
Partes (6)
Partes (6)
Species
Species (2)
Species (7)
Species (7)
Officium
Offic. (2)
Offic. (7)
Offic. (5)
Offic. (4)
Offic. (4)
Finis
Finis (3)
Finis (8)
Finis (6)
Finis (5)
Finis (5)
Instr.
Instr. (5)
Instr. (8)
Instr. (8)
Artifex
Actor (6)
Artifex (9)
Artifex (9)
Artifex (9)
Quare
Nomen (2/3)
Quare (10)
Quare (10)
Ordo
Ordo (3)
Ordo (11)
Zunächst führt diese Tabelle noch einmal die klare Übereinstimmung der Schemata des Gundissalinus und des Petrus Helias vor Augen. Zugleich werden jedoch auch Unterschiede deutlich, und zwar insbesondere im Blick auf die Abfolge der Fragen, die durch die Zahlen in runden Klammern angegeben wird. Alle drei Chartreser accessus behandeln partes und species nach officium und finis, womit sie der ciceronischen Reihenfolge folgen. Anders die Abfolge bei Gundissalinus, der – wie bemerkenswerter Weise auch Boethius in De topicis differentiis – die Behandlung von partes und species vorzieht. Diese geänderte Abfolge hält Gundissalinus in sämtlichen Kapiteln durch, so daß sie nicht bloß einer flüchtigen Vertauschung geschuldet zu sein scheint, sondern vermutlich von systematischer Relevanz ist. [37] Und tatsächlich ist es durchaus erklärbar, warum Gundissalinus diese Änderung vornimmt, wenn man sein Interesse einer strukturierten Darstellung des Ganzen der Wissenschaften bedenkt. Denn mit diesem kommt der Frage nach der Beziehung der Teile der einzelnen Wissenschaften und nach der Subordination bestimmter Wissenschaften eine ausgezeichnete Bedeutung zu, zumal Gundissalinus sich in der Situation befindet, zahlreiche bislang nicht qualifizierte und in den tradierten ordo scientiarum integrierte ‚neue’ Wissenschaften gleichsam ‚unterbringen’ zu müssen. Die Einteilung und Subordination der Wissenschaften wird damit zu einer der zentralen Herausforderungen der Wissens- und Wissenschaftstheorie, auf die Gundissalinus mit Hilfe der κεφαλαια reagiert.
So nennt Gundissalinus etwa im Falle der Physik folgende acht species, von denen es heißt, daß sie unter der Physik enthalten seien: scientia de medicina, scientia de iudiciis, scientia de nigromantia secundum physicam, scientia de imaginibus, scientia de agricultura, scientia de navigatione, scientia de speculis und scientia de alquimia. Daneben zählt er als partes der Physik folgende Teile auf: Liber caeli et mundi, De generatione et corruptione, De vegetabilibus usw., also verschiedene naturphilosophische Schriften des Aristoteles. [38] Für die Mathematik hinwiederum nennt er folgende sieben species, die unter ihr enthalten sind: arithmetica, geometria, musica, astrologia, scientia de aspectibus, scientia de ponderibus, scientia de ingeniis. Ihre partes sind mit den ersten vier species identisch. [39] Im Metaphysik-Kapitel, um abermals nur die drei bedeutendsten Wissenschaften zu nennen, werden die species als «consequentia entis, in quae scilicet dividitur ens», angegeben: substantia, accidens, universale, particulare, causa, causatum, potentia und actus. Die partes schließlich richten sich nach der Art der Unabhängigkeit des betrachteten Gegenstandes. [40]
Was es mit der unterscheidenden Rede von den species und partes genauerhin auf sich hat, deutet Gundissalinus im Mathematik-Kapitel an. Hier heißt es:
Constat igitur, quod totum praedicamentum quantitatis materia est mathematicae facultatis, quando quidem singulae species istius materia sunt singularum specierum illius; quapropter singulae materiae specierum partes erunt gereris earum. [41]
Die jeweiligen species einer Wissenschaft korrelieren demnach mit den species der Materie bzw. des Gegenstandes der entsprechenden Wissenschaft, im Falle der Mathematik also mit den species der Quantität. Allerdings ist dies nur eine sehr andeutungsweise Erklärung; den Schlüssel zum Verständnis des von Gundissalinus hier Gemeinten scheint die Summa Avicennae de convenientia et differentia scientiarum zu liefern – das von Gundissalinus übersetzte und in seine Divisionsschrift unter Verweis auf seine Herkunft integrierte achte Kapitel des zweiten Teils des fünften Buches von Kitab al-Shifa, [42] das den Analytica posteriora entspricht. [43] In diesem konstatiert Avicenna und mit ihm sein Übersetzer Gundissalinus, daß die Unterscheidung auch zusammenhängender Wissenschaften über ihren Gegenstand erfolgt. So kann zwischen zwei Wissenschaften, die sich auf denselben Gegenstand beziehen eine «communicatio ut generis ad accidens speciei» [44] bestehen, d.h. die species oder pars bezieht sich auf bestimmte Akzidenzen des gemeinsamen Gegenstandes. Diese Feststellung wird von Avicenna noch weiter differenziert:
Et hoc membrum dividitur in duo quorum unum ponit minus commune de universitate communioris et in scientia eius ita ut speculatio eius sit pars speculationis communioris, alterum vero assolat minus commune a communiore et speculationem eius non ponit partem speculationis magis communis, sed ponit eam scientiam sub eo. [45]
Dies entspricht genau der gundissalinischen Unterscheidung von species und partes, insofern erstere als untergeordnete oder subordinierte Wissenschaften verstanden werden, während die partes konstitutive Bestandteile der Wissenschaften sind. Deutlicher noch tritt die Unterscheidung an folgendem Beispiel zutage, daß Avicenna und Gundissalinus bemühen:
Unus [modus] est cum id, per quod res fit minus communis est aliquid de accidentibus essentialibus signatum et tunc considerantur accidentia, consequentia quae consequuntur subiectum appropriatum secundum quod adiungitur ei illud accidens tantum, sicut medicina quae est sub scientia naturali. Medicina enim speculatur corpus hominis, pars etiam quaedam scientiae naturalis speculatur corpus hominis. Sed pars scientiae naturalis quae speculatur corpus hominis considerat illud absolute et inquirit de accidentibus eius essentialibus absolute, quae accidunt ei secundum quod est homo, non secundum conditionem, quae adiungatur. Medicina vero considerat illud secundum quod infirmatur vel sanatur tantum et inquirit de accidentibus eius, quae sunt et hoc modo. [46]
Die Unterscheidung zwischen species und partes beruht demnach darauf, daß letztere die Akzidenzen des gemeinsamen Gegenstandes absolute betrachten, während erstere ihn in besonderer Rücksicht untersuchen. Die species sind mithin kein Teil der entsprechenden Wissenschaft, hier der Physik, sondern dieser untergeordnete Wissenschaften. So behandelt etwa eine pars der Naturphilosophie den Körper des Menschen absolute; die Medizin hingegen als der Naturphilosophie subordinierte Wissenschaft behandelt den Körper des Menschen nur unter besonderer Rücksicht. Damit liefert Gundissalinus eine theoretische Antwort auf die sich durch die Neuentdeckung der Natur- und anderer Wissenschaften vermittelt durch die arabische Philosophie stellende Herausforderung einer wissenschaftstheoretischen Einordnung derselben; so ermöglichen ihm die Begriffe partes und species nicht nur, verschiedene Teile der Wissenschaften zu identifizieren, sondern zugleich erlaubt ihm dieses Instrumentarium, die neu entdeckten Wissenschaften in ein hierarchisches Ordnungsschema innerhalb des tradierten ordo scientiarum zu bringen.
Gundissalinus gelingt damit in der Verbindung des ciceronisch-boethianischen accessus-Schemas aus De topicis differentiis mit Gedanken des Avicenna, die ihrerseits an Aristoteles’ Analytica posteriora anknüpfen, wiewohl sie sich zugleich deutlich von ihnen absetzen, [47] eine wissens- und wissenschaftstheoretisch äußerst bedeutsame Neu-Interpretation der beiden κεφαλαια species und partes, die mit ihrem Verständnis der partes sowohl zu einer Klärung der Binnenstruktur der einzelnen Wissenschaften beiträgt als sie auch mit ihrem Verständnis der species die Frage der Subordination der Wissenschaften in angemessener Weise in den Blick bekommt.
VI. Schluß
Das von Gundissalinus vorgestellte accessus-Schema weist damit nicht nur in seinem universellen, weil auf die Totalität der Wissenschaften ausgebreiteten Anspruch über die Chartreser Entwürfe hinaus und auf seinen ciceronisch-boethianischen Ursprung zurück, sondern auch inhaltlich wird es zu einem wissens- und wissenschaftstheoretisch höchst relevanten Element und zeigt erneut [48] die fruchtbare Verknüpfung von lateinisch-christlicher Tradition und avicennianischen Theorieelementen bei Gundissalinus. So ist zwar Ludwig Baurs eingangs erwähnte Ansicht von einer arabischen Inspirationsquelle für den gundissalinischen accessus nicht haltbar, denn für eine Interpretation der κεφαλαια über die bloß bibliographisch-rezeptionsorientiere Funktion hinaus – wie sie in der griechischen Tradition bereits vorliegt – in Richtung auf eine Strukturierung der Wissenschaften selbst – wie sie bei Cicero erstmalig begegnet, um dann von Boethius aufgegriffen zu werden – gibt es in der arabischen Tradition keine expliziten Beispiele. Hier bleiben die κεφαλαια auf der Ebene literarischer Momente innerhalb der Einleitungen zu Kommentaren der aristotelischen Schriften, insbesondere der Kategorienschrift, ohne den Anspruch, über die Wissenschaft selbst etwas auszusagen. In der lateinisch-christlichen Tradition dagegen, die mit Ciceros De inventione beginnt und über Boethius und die Chartreser Autoren bis zu Gundissalinus reicht, läßt sich beobachten, daß die κεφαλαια in zunehmendem Maße nicht nur als literarische Darstellungsformen der Wissenschaften, sondern als Strukturelemente derselben und damit als epistemologische Grundbegriffe verstanden werden, womit sie zum Bestandteil einer originär wissenstheoretischen Diskussion werden. Daß diese Diskussion zur Gegenstands-, zur Methodenbestimmung der Wissenschaften und zur Frage nach ihrer Subordination dann ihrerseits Anschlußmöglichkeiten für Theoreme aus der arabischen Philosophie, hier des Avicenna, bietet, ja diese Ergänzung gleichsam fordert, steht außer Frage. Dabei ist es, so sei abschließend noch gesagt, die gemeinsame aristotelische Wurzel der ciceronisch-boethianischen Konzeptionen und der arabischen Philosophie, die dieses geforderte Zusammengehen möglich macht und gewährleistet!
[1] Die Notwendigkeit eines vertieften Studiums der lateinisch-christlichen Quellen des Gundissalinus habe ich wiederholt ausführlich begründet, so auch in meinem Artikel «[...] in theologicis intelligentialiter versari oportet – Zur Rezeption der boethianischen Methodologie der Wissenschaften bei Dominicus Gundissalinus», Convenit Selecta, 5 (2000), S. 37-46.
[2] Siehe Ludwig Baur in seiner Studie zu Dominicus Gundissalinus, De divsione philosophiae, ed. Ludwig Baur, Münster 1903 (BGPhMA IV, 2-3), S. 205: «Es dürfte wohl kaum einem ernstlichen Zweifel begegnen, wenn wir die Behauptung aufstellen, Gundissalinus habe seine κεφαλαια zum großen Teil aus diesen, durch die arabischen Übersetzungen der Kommentare zu den Aristotelesschriften ihm wohl zugänglichen κεφαλαια entnommen.» – Meine Hervorhebung.
[3] Anicius Manlius Severinus Boethius, In Isagogen Porphyrii commenta, ed. Samuel Brandt (CSEL XLVIII), Lipsiae 1906, S. 4-5.
[4] Es ist nach wie vor umstritten, ob Boethius in Alexandrien oder in Athen studierte, oder gar beides. Vgl. dazu u.a. Cornelia de Vogel, «Boethiana I», Vivarium, 9 (1971), S. 59-66.
[5] Ammonios Hermeiou, In Porphyrii Isagogen sive V voces, ed. A. Busse, Berlin 1891.
[6] Eine tabellarische Übersicht der κεφαλαια bei den einschlägigen spätantiken Autoren gibt Edwin A. Quain, «The Medieval accessus ad auctores», Traditio, 3 (1945), S. 215-264, hier S. 250.
[7] Siehe zur Chronologie der logischen Schriften des Boethius Lambertus Marie de Rijk, «On the Chronology of Boethius’ Works on Logic», Vivarium, 2 (1964), S. 1-49 u. S. 125-162.
[8] Anicius Manlius Severinus Boethius, De topicis differentiis, PL 64, Sp. 1174-1216, hier Sp. 1207.
[9] Cicero, De inventione, hrsg. u. übers. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf u. Zürich, Artemis u. Winkler, 1998, I, 5, S. 18.
[10] Vgl. hierzu insbesondere Christel Hein, Definition und Einteilung der Philosophie. Von der spätantiken Einleitungsliteratur zur arabischen Enzyklopädie, Frankfurt am Main, Peter Lang, 1985, S. 385-387.
[11] Siehe al-Farabi, Catálogo de las ciencias, ed. Ángel González Palencia, Madrid, CSIC, 19532, S. 13.
[12] Siehe für Gerhards Übersetzung, ibid., S. 91, für Gundissalinus’, Id., De scientiis, ed. Manuel Alonso, Madrid, u. Granada, CSIC,1954, S. 67.
[13] Siehe zu Sedulius und Remigius H. Silvestre, «Le schéma ‚moderne’ des accessus», Latomus, 16 (1957), S. 684-689, der eine Zusammenstellung verschiedener accessus bietet, die angesichts der schlechten Editionslage, insbesondere der Werke des Remigius, von großem Wert ist.
[14] Wilhelm von Conches, Glose super Priscianum, Florenz, Bibl. Med.-Laur., ms. San Marco 310, fol. 1ra., zitiert nach Karin M. Fredborg in ihrer Einleitung zu Thierry von Chartres, The Latin Rhetorical Commentaries by Thierry of Chartres, Toronto, Pontificial Institute of Mediaeval Studies, 1988, S. 15, Anm. 66. – Siehe zu Wilhelms Glosse auch Édouard Jeauneau, «Deux rédactions des gloses de Guillaume de Conches sur Priscien», Recherches de théologie ancienne et médiévale, 27 (1960), S. 212-247.
[15] Petrus Helias, [In Ciceronis De inventione], Vatikan, Fondo Ottobon., lat. 2993. Zitiert nach Karin M. Fredborg, «Petrus Helias on Rhetoric», Cahiers de l’Institut du Moyen-Âge grec et latin, 13 (1974), S. 31-41, hier S. 32.
[16] Petrus Helias, Summa super Priscianum, ed. Leo Reilly, 2 Bde., Toronto, Pontificial Institute of Mediaeval Studies, 1993, hier Bd. I, S. 60.
[17] Thierry von Chartres, The Latin Rhetorical Commentaries by Thierry of Chartres, ed. cit., S. 49.
[18] Vgl. hierzu v.a. Richard W. Hunt, «The Introductions to the Artes in the Twelfth Century», Studia mediaevalia in honor R. J. Martin, Brügge 1948, S. 85-112; Karin M. Fredborg in ihrer Einleitung zu Thierry von Chartres, The Latin Rhetorical Commentaries by Thierry of Chartres, ed. cit., S. 15-20, Charles Burnett, «A New Source for Dominicus Gundissalinus’s Account of the Science of the Stars?», Annals of Science, 47 (1990), S. 361-374, hier S. 361-362. – In diesem zuletzt genannten Artikel weist Burnett auf zwei astronomische Traktate hin, die große Ähnlichkeit mit Gundissalinus’ Astronomie-Kapitel in De divisione besitzen und suggeriert, diese seien die Quelle für Gundissalinus bzw. es läge eine gemeinsame Chartreser Quelle vor. Zwar sind beide Traktate in Handschriften von Chartreser Provenienz überliefert, doch läßt Burnett außer acht, daß sie dort gerade mit zahlreichen von der Iberischen Halbinsel stammenden Schriften zusammenstehen.
[19] Vgl. Nikolaus M. Häring, «Thierry of Chartres and Dominicus Gundissalinus», Mediaeval Studies, 26 (1964), S. 271-286.
[20] So Leo Reilly in seiner Einleitung zu Petrus Helias, Summa super Priscianum, ed. cit., Bd. I, S. 30-32.
[21] Reillys hierfür ins Feld geführte Argumente lassen sich noch um einen weiteren Punkt ergänzen. So findet sich bei Petrus Helias die kuriose Etymologie von titulus aus Titan gleich sol, verbunden mit der Erklärung, der Titel erleuchte wie eine Sonne das ganze Werk. Leo Reilly bemerkt in seiner Edition, daß er die Quelle hierfür nicht finden kann. Vgl. Petrus Helias, Summa super Priscianum, ed. cit., Bd. I, S. 349. Bezeichnenderweise findet sich dieselbe Erklärung auch in Gundissalinus’ De divisione philosophiae, ed. cit., S. 114.
[22] Ludwig Baur in seiner Studie zu Dominicus Gundissalinus, De divsione philosophiae, ed. cit., S. 205. Siehe weiter oben Anm. 2.
[23] Ausnahmen sind die Kapitel «De aspectibus», «De ponderibus», «De ingeniis» und die praktische Philosophie, die nicht am Leitfaden der Fragen diskutiert werden.
[24] Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae, ed. cit., S. 19.
[25] Vgl. ibid., S. 140. – Auch hier sieht der Editor, Ludwig Baur, arabische Vorlagen am Werk; siehe ibid. S. 313-314. Doch ist nach allem bisher Gesagten viel wahrscheinlicher, daß auch an dieser Stelle Chartreser Einflüsse vorliegen; dies legt insbesondere die formelhafte Einführung der zwei Fassungen der κεφαλαια durch circa artem und circa librum nahe, die sich wörtlich sowohl bei Petrus Helias als auch bei Gundissalinus findet.
[26] Ich gehe hier nicht weiter auf Gundissalinus’ Interpretation von De Trinitate ein; vgl. dazu jedoch Alexander Fidora, «Die Rezeption der boethianischen Wissenschaftseinteilung bei Dominicus Gundissalinus», in: Rainer Berndt u.a. (Hrsg.), ‚Scientia’ und ‚Disciplina’ im 12. und 13. Jahrhundert. Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im Wandel, Berlin, Akademie Verlag, 2001, S. 178-191.
[27] Vgl. Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae, ed. cit., S. 20: «Materia vero naturalis scientiae est corpus, non secundum quod est ens, nec secundum quod est compositum ex duobus principiis quae sunt materia et forma, sed secundum quod subiectum est motui et quieti et permutationi.»
[28] Vgl. ibid., S. 31-32: «Materia eius est universaliter quantitas, sed divisim magnitudo et multitudo. [...] sed magnitudo alia mobilis, alia immobilis; multitudo quoque alia per se, alia relata.»
[29] Vgl. ibid., S. 37: «[...] ideo necessario materia huius scientiae est id quod communius et evidentius omnibus est, scilicet ens [...]»
[30] Vgl. hierzu auch Alexander Fidora, «Domingo Gundisalvo y la Sagrada Escritura», Estudios eclesiásticos, 76 (2001), S. 243-258.
[31] Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae, ed. cit., S. 92.
[32] Vgl. zur Frage der Axiomatik und ihrer Interpretation im Anschluß an Euklids Elemente und Boethius’ De hebdomadibus durch Gundissalinus, ibid., S. 32-33.
[33] Ibid., S. 27.
[34] Ibid., S. 32.
[35] Ibid., S. 38.
[36] Vgl. hierzu meinen in Anm. 1 genannten Artikel.
[37] Mir ist lediglich ein weiterer accessus bekannt, der wie Gundissalinus species und partes vorzieht; es handelt sich um einen anonymen Text, der vermutlich Mitte des 12. Jahrhunderts in England verfaßt wurde und den Charles Burnett zugänglich gemacht hat. Siehe Charles Burnett, «Innovations in the Classification of the Sciences in the Twelfth Century», in: Simo Knuuttila u.a. (Hrsg.), Knowledge and the Sciences in Medieval Philosophy. Proceedings of the Eighth International Congress of Medieval Philosophy, Helsinki, Luther-Agricola Society, 1990, S. 25-42.
[38] Vgl. Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae, ed. cit., S. 20-23.
[39] Vgl. ibid., S. 31-32.
[40] Vgl. ibid., S. 37.
[41] Ibid., S. 32.
[42] Ibid., S. 124-133.
[43] Es ist das Verdienst Henri Hugonnard-Roches, den Zusammenhang der Unterscheidung von species und partes in Gundissalinus De divisione mit der Übersetzung von Avicennas Summe herausgestellt zu haben. Die folgenden Bemerkungen sind angelehnt an seinen Artikel «La classification des sciences de Gundissalinus et l’influence d’Avicenne», in: Jean Jolivet u. Roshdi Rashed (Hrsg.), Études sur Avicenne, Paris, Belles Lettres, 1984, S. 41-75, hier S. 54-57.
[44] Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae, ed. cit., S. 125.
[45] Ibid.
[46] Ibid., S. 126-127
[47] In Aristoteles’ Analytica posteriora I, 13 wird die Frage der Subordination anders gelöst, indem zwischen den Wissenschaften, die das Warum eines Sachverhaltes und jenen die sein Daß erkennen, unterschieden wird. Vgl. zu Aristoteles’ Theorie der Subordination auch R. D. McKirahan, «Aristotle’s Subordinate Sciences», The British Journal for the History of Science, 11 (1978), S. 197-220.
[48] Vgl. meinen in Anm. 1 erwähnten Artikel.